2019 legte die EU mit dem «Green Deal» das Ziel fest, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Bis 2030 sollen dafür die Treibhausemissionen im Vergleich zu 1990 um 55% reduziert werden («fit for 55»).
Im Zentrum steht der Energiesektor, der heute für 3/4 der Schadstoffemissionen verantwortlich ist. Putins Krieg hat das ambitiöse Ziel zusätzlich belastet. Für den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen (heute 70% der Primärenergie) soll bis 2035 die EU-Stromproduktion um ein Drittel gesteigert und bis 2050 sogar verdoppelt werden. Das verlangt einen massiven Ausbau des Stromanteils am EU-Energiemix von heute einem Viertel auf 60% bis 2050.
Wie – oder ob – die Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden kann, diskutiere ich mit Günther Oettinger, dem früheren Vizepräsidenten der EU-Kommission und EU-Energie-Kommissar, und der Politikwissenschaftlerin, Energie- und Klimafachfrau Susanne Nies. Beide äussern sich trotz vieler offener Fragen zuversichtlich. Oettinger unterstreicht dabei aber den globalen Kontext: Der Emissionsanteil der EU liegt bei 8%, jener der USA bei 15% und von China bei 33%. China und Indien planen ihre Klimaneutralität erst für 2060, bzw. 2070, was zu einer Verlagerung der Grundstoffindustrien dorthin führen könne.
Als europaweites Projekt hängt Klimaneutralität von der koordinierten Lösung zahlreicher wirtschaftlicher, technischer, administrativer und politischer Probleme ab. Das alles funktioniere, so Oettinger, «nur europäisch, es gibt viel zu viele nationale Alleingänge und Egoismen». Zu den Problemfeldern:
Geld: Die Finanzierung – man spricht von einer Billion Euro – hängt nicht nur vom tatsächlich bestehenden politischen Willen ab; Oettinger schätzt den öffentlichen Anteil auf etwa ein Drittel – «zwei Drittel müssen durch kluge Regulierungen vom Markt kommen.» Die hohen Kosten rechtfertigen sich, so Nies, im Vergleich mit den «Kosten, wenn wir nichts tun, als Folge all der schnellen Veränderungen des Klimas».
Industrie: Oettinger verlangt eine kluge Balance zwischen Umwelt- und Industriepolitik, um den europäischen Produktionsstandort zu sichern. Er ist aber sehr skeptisch, ob ein handelspolitischer Schutz vor emissionsbelasteten Importen, wie von Nies argumentiert, machbar sei. Europa könne jedoch mit der Energiewende technologisches Vorbild werden und andern Ländern Technologien anbieten. In dieser Technoligieentwicklung sieht Nies die «unglaubliche Chance» für unseren Industriestandort.
Heizen verursacht 1/6 des CO2-Aussstosses in Deutschland. Deshalb ist geplant, die Zahl der energetischen Gebäudesanierungen bis 2030 zu verdoppeln und Heizungen auf Wärmepumpen umzustellen. Die Heizungsdebatte sei deshalb, so Nies, «absolut richtig, aber die Art wie es vermittelt wurde, war eine absolute Katastrophe, das kam rüber als Verbot». Deshalb argumentiert auch Oettinger generell für «marktwirtschaftliche Lösungen im Regelfall», insbesondere durch eine CO2-Bepreisung (ETS) und für «Gebote und Verbote nur im Ausnahmefall».
Mobilität: Der Strassenverkehr verursacht 1/5 des CO2-Ausstosses. Ab 2035 werden in der EU keine neuen Verbrenner mehr zugelassen. Schon 2030 müssten E-Autos schon 60% des Fuhrparks erreichen. Aber «hier redet man, um eins zu eins Autos durch E-Autos zu ersetzen», so Nies, anstelle eines Strategiewechsels zugunsten der Bahn.
Ausbau der Produktionskapazitäten und Infrastruktur: Allein in den nächsten acht Jahren sollen die Photovoltaik-Kapazitäten verdreifacht und die off-shore Wind-Kapazitäten verfünffacht werden. Der massive Ausbau der Stromproduktion ist auch für die Wasserstoffwirtschaft notwendig. Der durch Elektrolyse mithilfe erneuerbarer Energien hergestellte grüne Wasserstoff gilt als Triebfeder der Energiewende, da mit Wasserstoff Elektroenergie gespeichert werden kann, was bisher nur durch Stauseebecken möglich ist. Für den Transport von Wasserstoff sei aber, so Oettinger, noch nicht klar, ob die bestehenden Gasleitungen dafür genutzt werden können.
Übertragungsnetz: Der massive Energiebedarf und die wachsenden Transporterfordernisse wegen unterschiedlicher Verbrauchs- und Erzeugungsorte (offshore) wird das Übertragungsnetz zu einem zentralen Engpass des Energieumbaus. «Die Effizienz unserer Stromnetze ist eine Katastrophe, weil Technologien nicht eingesetzt werden, um Stromnetze optimal zu nutzen», so Nies. Entscheidend für die Konsumsteuerung seien Smart-Meters, damit der Verbrauch in Kenntnis der Kosten erfolgt. «Wie kann es denn sein, dass in diesem Land fast alle Stromzähler analog sind.» Auch Oettinger kritisiert: «Unsere Netze sind technologisch und digital nicht genügend versiert, das gilt auch für die Verteilnetze auf den letzten Metern.» Durch den Ausbau der Wärmepumpen und E-Mobilität werden «unsere Bestandsnetze in den Städten und Gemeinden völlig überlastet.» Für den grenzüberschreitenden Stromaustausch ist Oettinger hingegen optimistischer: «Wir sind heute viel weiter als vor 20 Jahren», das habe sich vor allem in der Zusammenarbeit mit Frankreich im letzten Winter gezeigt.
Energie-Binnenmarkt und Ukraine: Ein erfolgreicher «Green Deal» verlangt die Vollendung des Energiebinnenmarkts. Da sei, so Nies, «schon sehr viel passiert (…) Europa ist immer dann vorangekommen, wenn es eine grosse Krise gab.» Als eindrückliches Beispiel führt Oettinger die Ukraine und die «grandiose Ingenieurleistung (auf), dass man mitten im Krieg die Integration ins europäische Stromnetz geschafft hat und es funktioniert.» Trotz der russischen Angriffe, glaube er, «dass die Ukraine in diesem Krieg bezüglich Strom und Gas keinen grossen Schaden nehmen wird.» Trotzdem, so Nies, «sind die grossen Umspannwerke kaputt (…) und wir sehen in der Ukraine 500’000 10-MW-Dieselgeneratoren und das ganze Land stinkt nach Diesel.»
Ohne Rahmenabkommen bleibt die Schweiz ohne Stromabkommen. Das gefährdet die Versorgungssicherheit und führt zu hohen Kosten. Das ausgehandelte und dann von Bern abgelehnte Rahmenabkommen sei, so Oettinger, eine Chance, ein Zeitfenster gewesen, «das Zeitfenster ist zu. Bis zu den europäischen Wahlen (Juni 2024) wird gar nichts mehr geschehen. (…) mit gutem Willen könnte man 2025 ein Rahmenpaket mit einem Stromabkommen beschliessen. Besser spät als nie.» Bis dann «Notlösungen, Übergangslösungen, kein effizientes Europa».
Journal 21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.