Führt die iranische Protestbewegung in die politische Blockade oder steht das Land in einem revolutionären Umbruch? Mit der iranischen Künstlerin Parastou Forouhar und dem deutsch-iranischen Politologen Ali Fathollah-Nejad diskutiere Tim Guldimann über die iranische Protestbewegung.
Seit dem 16. September, als die staatlichen Sicherheitskräfte die verhaftete Kurdin Mahsa Amini ermordet haben, lehnen sich im ganzen Land Menschen aus allen Schichten und Regionen – an vorderster Front Frauen, Jugendliche und Arbeiter – gegen das Regime auf. Trotz massiver Repression kommt das Land nicht zur Ruhe. Der Auslöser war die Verweigerung von Mahsa Amini und anderer Frauen, sich dem Kopftuchzwang zu unterwerfen, aber sehr rasch eskalierte der Konflikt zu einer grundsätzlichen Konfrontation mit der religiös begründeten Herrschaft des Regimes. Die geballte Wut der Bevölkerung gegen das Regime äusserte sich schon früher in grösseren Demonstrationen, die aber – im Gegensatz zu heute – rasch niedergeschlagen wurden.
Die Konfrontation hat sich zusehends verhärtet. Die breite Bevölkerung leidet unter einer massiven Inflation und hoher Arbeitslosigkeit, die Mittelschicht ist verarmt. Frühere Hoffnungen auf die Reformer – wie zuvor auf die Präsidenten Khatami und Rohani – sind verflogen. Der Ausschluss aller missliebigen Kandidaten hat die Wahlen vollends zur Farce gemacht. Kaum jemand glaubt noch an eine Lösung innerhalb des Systems. Diese breite Desillusionierung führt aber kaum mehr zu Resignation, sondern – trotz brutaler Repression mit Hunderten Toten und Zehntausenden Verhafteten – zu einer Aufbruchstimmung mit Hoffnungen auf eine grundsätzliche Veränderung, auch wenn diese nicht absehbar ist. Ali Fathollah-Nejad spricht deshalb von einem langfristig revolutionären Prozess.
Besonders in der jüngeren Generation habe sich – so Parastou Forouhar – das Wertesystem der Gesellschaft verändert. Die Menschen sahen sich lange gezwungen, in der Oeffentlichkeit die restriktiven Regeln des islamischen Systems zu befolgen, und fühlten sich dabei als Mittäter, weil sie sich nicht genügend gewehrt hätten. Dabei versuchten sie nur, in einer falschen Situation richtig zu leben, anständig und lebensbewahrend, um ihre menschliche Würde in den schlimmsten Situationen zu verteidigen. Heute sind vor allem die jungen Menschen nicht mehr bereit, dieses Doppelleben, diese Doppelmoral mitzumachen. Sie rebellieren und versuchen, sich selbst zu sein, und bestehen darauf, so zu leben, wie sie sind und nicht so, wie es die islamische Republik von ihnen verlangt.
Die Avantgarde der Bewegung sind die Frauen, die heute ihre Selbstbestimmung einfordern und dabei mit dem verkrusteten Regime alter Männer kollidieren. Diese identifizieren sich nur noch mit der Vergangenheit und möchten diese Selbstbestimmung nicht zulassen. Dabei zeigt sich der sexuelle Subtext der Konflikte darin, dass auffallend attraktive junge Frauen ermordet werden und massive Vergewaltigungen zum Repressionsinstrument des Regimes geworden sind, das der toxischen Männlichkeit sexuell frustrierter Schlägertrupps freien Lauf lässt. Wie dämlich die Kleriker sind, bewies unlängst ein Ayatollah und Freitagsprediger, der verlangte, dass die offenen Küchen in den Wohnungen abgeschafft würden, damit die Frauen hinter einer Mauer kochen.
Die Positionen verhärten sich, die eine Seite zeige sich immer schöner, lebensbejahender, und die andere Seite benehme sich wie Untote, wie Zombies. «Ihre Zeit ist vorbei, die sind vorbei, aber sie haben es noch nicht kapiert und zehren von der Lebensenergie der anderen». Als Beispiel führt Forouhar einen Widerstandskämpfer auf, der vor der Vollstreckung seines Todesurteils als seinen letzten Willen verlangte, dass die Menschen an seinem Grab Musik spielen und tanzen sollen – beides verboten – nur tanzen und glücklich sein, keine Korantexte! Die zentrale Parole der Bewegung, «Frau Leben Freiheit», markiere eine absolute Abkehr vom Gottesstaat: lebensbejahend und säkular.
Die Kluft ist irreversibel geworden, beide Seiten sind auf Kolisionskurs und das System bietet keinen Ausweg aus der Blockade. Der Konflikt habe – so Ali Fathollah-Nejad – schon heute eine neue Qualität erreicht, weil er schichtübergreifend alle Regionen und ethnischen Minderheiten mobilisiere. Wirklich revolutionär würde er aber nur, wenn er sich – was man nicht ausschliessen kann – zu einer wirklichen Massenbewegung entwickelt, wenn sich die Streiks ausdehnen und sich die Risse im Machtapparat vertiefen. Für das Letzte sei die Haltung Europas wichtig, wenn zum Beispiel die EU die iranischen Revolutionsgarden auf die Terrorliste setzen würden, um das klare Signal zu setzen, dass das System keine Zukunft hat. Das iranische Regime habe sich immer nur dann bewegt, wenn der Druck immens war, von innen und von aussen durch harte Sanktionen.
Journal 21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.