Die Mehrheit, mit der Benjamin Netanjahu Anfang des Monats die letzten Parlamentswahlen gewonnen hat, könnte knapper kaum sein. Dass er aber trotzdem von Präsident Jitzchak Herzog beauftragt wurde, eine regierungsfähige Koalition zu bilden, zeigt einmal mehr, dass auch in Israel die Zeit der grossen Mehrheiten längst vorbei ist.
Dies ist einer der Gründe dafür, dass hier öfter als sonst gewählt wird: Die bisher letzte Wahl war die fünfte innerhalb von dreieinhalb Jahren. Netanjahu – Israels Politiker mit der längsten Amtszeit als Ministerpräsident verschiedener Legislaturperioden – zeigte sich denn auch zuversichtlich, dass es ihm gelingen würde, die von ihm geplante Koalition rechter und religiös-orthodoxer Parteien zusammenzubringen. Was er allerdings falsch eingeschätzt haben dürfte: So sehr die dafür in Frage kommenden Parteien auch wie ein fester Rechtsblock erscheinen, so zerstritten sind sie inzwischen doch auch untereinander und konkurrieren ihre Führer um wichtige Ministerposten, um ihr eigenes Ego zu pflegen und ihrer Partei eine bessere Ausgangsposition für die nächsten Wahlen aufzubauen. Wann immer das sein wird.
Der Einfluss von Donald Trump
Netanjahu hatte aber offensichtlich auch nicht geahnt, welche Auswirkungen das Ergebnis der amerikanischen «Midterm-Wahlen» auf die Möglichkeiten der anvisierten Rechtsregierung in Israel haben könnte: Auch er dürfte von einem Wahlsieg der Republikaner ausgegangen sein und dann – in zwei Jahren – einer möglichen Rückkehr Donald Trumps, mit dem Netanjahu so viele Gemeinsamkeiten teilte. Stattdessen gingen die Demokraten gestärkt aus den Wahlen hervor und ihr Präsident, Joe Biden, scheint – entgegen den Prognosen – entschlossen, bei den nächsten Wahlen erneut für das Weisse Haus zu
kandidieren.
Kein Erfolg versprechendes Szenario für die von «Bibi» Netanjahu geplante national-religiöse Rechtsregierung. War es doch Trump gewesen, der Netanjahu signalisiert hatte, er werde eine geplante Annexion grosser Teile des (im Sechstagekrieg 1967 von Israel eroberten und seitdem besetzten) Westjordanlandes nicht verhindern. Biden hat sich bisher nicht klar und eindeutig von solch einer Idee distanziert, aber die Kritik an verschiedenen Aspekten der israelischen Politik in und gegenüber den besetzten Gebieten wächst unter Biden doch deutlich.
Ein Auslöser dieser Entwicklung ist die Initiative des Chefs des «Palästinensischen Staates», Mahmud Abbas, den Internationalen Gerichtshof im niederländischen Haag aufzufordern, er solle Israels Besatzungspolitik in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten untersuchen und Israel für seine dabei vorgenommenen Verletzungen des Völkerrechts verurteilen:
Die bereits vollzogenen Annexionen von Land in diesen Gebieten sind der wohl offenbarste Verstoss gegen internationales Recht. Im Westjordanland leben jetzt schon eine halbe Million Siedler in 133 Siedlungen und rund 100 sogenannten «Aussenposten». Der (arabische) Ostteil von Jerusalem ist herbei nicht berücksichtigt, obwohl er allein schon aus religiösen Gründen ein ebenso grosses Problem darstellt, nachdem Israel Ostjerusalem bereits 1980 annektiert hat. Washingtons Anerkennung dieser Massnahme war ein Ergebnis der Anerkennung ganz Jerusalems als Hauptstadt Israels durch die Regierung Trump.
Starkes rechtes Lager
Biden wird das nicht rückgängig machen, besonders in letzter Zeit aber ist doch wachsende Kritik aus Washington zu hören. Besonders am Verhalten des israelischen Militärs und auch bewaffneter Siedler gegenüber den Palästinensern in den besetzten Gebieten. Allein im Westjordanland sind in diesem Jahr bisher bei Aktionen des Militärs und bei Überfällen durch Siedler 81 Palästinenser getötet worden – ein blutiger «Rekord» in den Jahren seit 2015. Ein Teil der Getöteten war selbst an Überfällen auf Israelis (Zivilisten wie Militärs) beteiligt, andere wurden ohne eigene Verwicklung erschossen.
Einer der bekanntesten Fälle ereignete sich vor einem knappen halben Jahr: Eine kleine Gruppe von Journalisten wollte über eine israelische Fahndungsaktion nach gesuchten Terrorverdächtigen im Westjordanland berichten und geriet dabei selbst unter Beschuss. Die Korrespondentin des qatarischen TV-Senders «Al Jazeera» erlag ihren Verletzungen.
Wie schon öfter in ähnlichen Fällen erklärten israelische Sprecher zunächst, die Schüsse seien von Palästinensern abgegeben worden, dann hiess es, es sei auch möglich, dass sie von einem Soldaten gekommen seien. Weil die Tote sowohl Palästinenserin als auch US-Amerikanerin war, schaltete Washington sich ein und kündigte eine eigene Untersuchung des Falls an. Wenn Netanjahu bis dahin seine Koalition zusammen hat, dann dürfte er deswegen gleich mit einer Belastung der USA-Beziehungen konfrontiert sein.
Dasselbe freilich wäre auch geschehen, wenn die bisherige Regierung im Amt geblieben wäre: Ihr Verteidigungsminister Gantz liess verärgert wissen, man habe den Vorfall bereits gründlich untersucht und brauche keine weitere Untersuchung aus den USA.
Noch krasser – weil grundsätzlicher – war freilich die Reaktion des bisherigen Übergangspremiers Jair Lapid auf Berichte, dass Washington einverstanden sei, dass der Internationale Gerichtshof sich mit der israelischen Besatzung beschäftige: Solches sei riskant, meinte Lapid, weil es die Haltung der Palästinenser nur weiter radikalisiere. Vor der UN-Vollversammlung hatte Lapid zur allgemeinen Verwunderung noch erklärt, er trete für die «Zweistaaten-Lösung» für Israel und Palästina ein.