Vukovar, Travnik, Sarajevo, Mitrovica. Dreissig Jahre sind’s her, da die Geographie des jugoslawischen Hinterlands ihren Eingang in die globale Newsberichterstattung fand. Ein Jahrzehnt nach Titos Tod hatte uns die Kunde von gleich mehreren Brandherden im südslawischen Vielvölkerstaat erreicht. Keiner dieser Berichte war verständlich ohne dazugehörige Landkarte. Ostslawonien, Krajina, Kosovo Polje. Wo zum Teufel liegt das?
Unfähige politische Elite
Einer der wenigen deutschsprachigen Berichterstatter mit landeskundlichem Wissen und umgangssprachlicher Expertise war seinerzeit der damalige NZZ-Korrespondent Cyrill Stieger. In einer Sammlung von Betrachtungen an früheren kriegerischen Brennpunkten in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo zieht der einst ungewollt zum Kriegskorrespondenten gewordene Autor nun Bilanz.* Kein «abgrundtiefer Hass», wie er weitherum oft etwas oberflächlich diagnostiziert worden war, prägt bis heute das Verhältnis zwischen den Nationen (Völkern) auf dem westlichen Balkan, sondern ein anhaltendes Misstrauen, das allseits von nationalistischen Blut-und-Boden-Politikern (und Politikerinnen) bis heute befeuert wird.
Resultat ist ein gegenseitiges Desinteresse, welches dem Aufbau gedeihlicher Nachbarschaften im Wege steht, staatlichen Aufbau erschwert und regionale oder gar europäische Integration torpediert. «Was Kroaten, Serben, Bosniaken und Kosovo-Albaner vor allem miteinander verbindet, ist das Gefühl der Perspektivlosigkeit angesichts des Unvermögens der politischen Elite, sich der wirklichen Probleme anzunehmen.»
Am 18. November 1991 berichtete Stieger aus dem völlig zerstörten Zentrum der kroatischen Provinzstadt Vukovar, wohin er kurz nach Beendigung der Belagerung durch serbische Truppen geführt worden war. Ein Bild des Grauens bot sich. Verwesende Tiere, verkohlte Leichen am Strassenrand, Schutt und Trümmer. Zitiert wird ein Offizier: «Wir haben das von den kroatischen Ustasha-Horden geknechtete serbische Volk nach heldenhaftem Kampf befreit und damit einen Genozid verhindert.» Die in der Stadt an Zivilisten und verwundeten Soldaten begangenen Kriegsverbrechen kamen erst nachträglich ans Licht und lösten weltweite Empörung aus. Einige der Schuldigen wurden für ihre Untaten vom Uno-Sondertribunal für das ehemalige Jugoslawien verurteilt.
Gescheiterte regionale Integration
Die Ruinen im österreichisch-ungarisch geprägten Ortskern sind heute längst beseitigt. Kroatien hat dem Ort den Status der Heldenstadt verliehen und die von Stieger befragte kroatische und serbische Bevölkerung bezeichnet den Alltag in Vukovar als normal. Eine Normalität allerdings, die darin besteht, dass jede Volksgruppe ihre eigene Sphäre (Schulen, Vereine, Kneipen, Clubs) hat. Was für die Befragten normal erscheint, ist effektiv neu und Resultat einer unseligen, von Blut-und-Boden-Politikern gesteuerten Entwicklung.
Dafür die Urheberschaft beanspruchen dürfen die beiden Gründerpräsidenten der jugoslawischen Nachfolgestaaten Kroatien und Serbien, Tudjman und Milosevic. Ihnen und ihrem Umfeld war es gelungen, die nach Titos Tod 1980 kriselnde Föderative Volksrepublik Jugoslawien zu zerschlagen. Dass die Region von Vukovar dabei zu einem der Hauptschauplätze geriet, hing mit der einstigen wirtschaftlichen Bedeutung als blühendem Wirtschaftsstandort zusammen, wo bis Mitte der achtziger Jahre über 20’000 Personen in einer Gummi- und Schuhfabrik ihr Auskommen fanden – heute sind es noch 600.
Wie in andern titoistischen Modellstädten ruhte auch in Vukovar die Hoffnung auf dem neuen jugoslawischen Menschen als Treiber der regionalen Integration der Völker des westlichen Balkans. Es bestand im Vielvölkerstaat die Absicht des regierenden Bunds der Kommunisten, auf diese Weise die Unterschiede zwischen den Nationen (Völkern) zugunsten einer neuen, gesamtjugoslawischen Identität zu minimieren. So etwa konnten sich Offiziere der Volksarmee ausrechnen, mit einer Mischehe (Heirat ausserhalb ihrer Nation) ihre Karrierechancen zu verbessern.
Wenig überraschend lagen die leidvollsten Bruchstellen des Scheiterns der jugoslawischen Integration in gemischt besiedelten Gebieten. Deshalb auch forderte der Zerfallskrieg in dem von Muslimen, katholischen Kroaten und orthodoxen Serben besiedelten Bosnien-Herzegowina am meisten Opfer und materiellen Schaden. Beim Besuch diverser Schulen in gemischt besiedelten Gegenden von Bosniens Hinterland beschreibt Stieger detailliert die inneren Widerstände im Versöhnungsprozess zwischen den Volksgruppen. Sie äussern sich in erbitterten Streitereien über Lehrpläne, Unterrichtssprache, Raumnutzungen und natürlich über Lehrmittel zur jüngsten Geschichte. Dahinter verbirgt sich die Ansicht der Antagonisten, die Schulen als Orte der Identitätsbildung zu verankern.
Wer hat sie gewählt?
Sichtbarstes Resultat dieses Prozesses sind die in Bosnien weitherum anzutreffenden «zwei Schulen unter einem Dach», wo etwa bosnjakische und kroatische Kinder im selben Gebäude in ihren jeweiligen Lehrgängen von eigenen Lehrern in unterschiedlichen Räumen unterrichtet werden – notabene in ihren jeweiligen eigenen «Sprachen». Anzumerken ist, dass sich Kroatisch, Serbisch und Bosnisch nur in Nuancen unterscheiden, während das einstige Serbokroatisch, die Lingua franca Jugoslawiens, nicht länger unterrichtet wird.
Die präzise, kenntnisreiche und einfühlsame Darstellung des aktuellen Zustands von Bosniens Schulsystem reflektiert die generellen Widersprüche beim politischen Wiederaufbau der kriegsversehrten einstigen jugoslawischen Teilrepublik. Nach der Zerstückelung Jugoslawiens durch eine Horde übelster Chauvinisten hievten sich im Zuge der nationalen Identitätsfindung billige Kopien ihrer nationalistischen Überväter an die Macht. Sie prägen in Serbien, Kroatien und Bosnien bis heute den politischen Alltag. Und zwar trotz der allseits immer wieder vom Volk geäusserten Bekenntnis, dass «die korrupten Politiker» die Alleinschuld am fortwährenden Zustand der wirtschaftlichen und sozialen Aussichtlosigkeit trügen.
Gut, dass der Autor seine vielen Gesprächspartner auch damit konfrontiert, dass sie es sind, welche diese Figuren immer wieder an den Urnen bestätigt haben. Woher rührt sie, diese Macht des Ethnischen? Im Falle Ex-Jugoslawiens wohl am ehesten daher, dass die staatlichen Institutionen schlicht zu schwach sind, den Einpeitschern nationaler Identitätsbildung Paroli zu bieten. Und eine aktive Bürgergesellschaft, wie sie sich etwa in Rumänien bemerkbar macht, in Ex-Jugoslawien bisher weitgehend fehlt.
Cyrill Stieger: Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem Balkan. Rotpunktverlag, Zürich 2021.