Intelligenz ist für den Lernerfolg ein wichtiger und entscheidender Faktor – aber eben nur einer unter mehreren. A und O des Lernens sind und bleiben auch Motivation und Fleiss – neben dem systematischen Wiederholen und Üben. Diese Hauptfaktoren hängen voneinander ab und bedingen den beruflichen Lernerfolg. Darin sind sich alle Lernforscher und Kognitionspsychologen einig. [1]
Ohne Fleiss kein Preis
Ist es darum nicht erstaunlich, wie salopp, ja unverantwortlich Jürg Brühlmann vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer der Schweiz LCH mit den Persönlichkeitsmerkmalen „Ehrgeiz“ und „Fleiss“ umgeht? Im Prinzip negiert er die elementarsten Erkenntnisse der Neurowissenschaften. Wie anders ist denn sein Statement zu erklären? Er findet es positiv, wenn Schülerinnen und Schüler nicht zu ambitioniert sind.
So mindestens kommentiert der Leiter Pädagogik LCH die Ergebnisse einer Pisa-Studie, die nach dem Wohlbefinden der jungen Leute fragte und nach dem Ehrgeiz, etwas zu erreichen. Im Vergleich mit andern OECD-Länder schnitten die 15-jährigen Schweizer Schüler „schlecht“ ab. [2] Ihre schulischen Ambitionen halten sich in spürbaren Grenzen – im Gegensatz zu den Altersgenossen im Ausland.
Stimmen die Leistungen wirklich?
Wörtlich meinte Brühlmann: „Dass die Schüler innerhalb ihrer Klasse nicht die besten sein wollen, passt zusammen mit dem tieferen Stresslevel. Die Leistungen stimmen trotzdem.“ Doch wer genauer hinschaut, zweifelt an der unkritischen Aussage des hohen LCH-Repräsentanten. Sie widerspricht schlicht den Tatsachen.
15 bis 20 Prozent der Schweizer Schulabgänger verlassen die Schule als Analphabeten, was ja später umso grösseren Stress verursachen kann. Jeder zweite Anwärter bei der Zürcher Polizei scheitert am Fach Deutsch. Und nur jeder 30. Achtklässler spricht gemäss einer repräsentativen Studie von 2016 in der Zentralschweiz lehrplangerecht Französisch. Durch den Niedergang des Schulfachs Geschichte sind historische Kenntnisse kaum mehr vorhanden. [3] Das sind die nackten Fakten.
Von den „Primitivregeln“ des Lehrens und Lernens
Fleiss müsste in unserer westlichen Gesellschaft einen viel höheren Stellenwert innehaben. Davon ist der renommierte deutsche Hirnforscher und Philosoph Gerhard Roth zutiefst überzeugt. Ausdauer und Fleiss wären „unerlässliche Ingredienzen“ des schulischen und beruflichen Erfolges. Und besorgt fügt er bei: Doch beides werde in der heutigen Schule sträflich vernachlässigt.
Ökonomische Prosperität und damit soziale Wohlfahrt sind nicht naturgegebene Grössen, sondern erarbeitet – mit Fleiss und Ausdauer. Nicht umsonst zählt der Philosoph und Erziehungswissenschaftler Otto Friedrich Bollnow Fleiss zu den wirtschaftlichen Tugenden. [4] Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, eine solche Haltung zu diffamieren und das Bedeutsame einer gesunden Ambition einfach so unter den Tisch zu wischen, wie dies im Statement des Chef-Pädagogen LCH zum Ausdruck kommt.
Die soziale Problematik des Fleisses
Die beruflichen Chancen von Kindern wie das Wohlergehen eines Landes beruhen auch auf den Säulen von Ehrgeiz und Ausdauer. Selbstredend sind sie nicht die einzigen. Doch es sind wichtige Pfeiler. Sie müssen bei jungen Menschen gefördert und in ein positives Licht gerückt werden. Vor allem bei Knaben gilt Fleiss ja als „uncool“ und wird sozial nicht selten abgestraft. Dabei – so Gerhard Roth – bildet er zusammen mit Begabung und Motivation ein Basiselement für gelingendes Lernen.
[1] Vgl. Gerhard Roth (2011), Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 34, 309ff.; dazu auch: Elsbeth Stern, Aljoscha Neubauer (2013), Intelligenz. Grosse Unterschiede und ihre Folgen. München: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 210ff.
[2] Philipp Zweifel, „Fehlender Ehrgeiz wirkt lähmend“, in: Tages Anzeiger, 21. April 2017.
[3] Vgl. dazu: Felix Müller, Der Niedergang des Schulfachs Geschichte hilft den Populisten, in: NZZaS, 5.2.2017, S. 15; Lucienne Vaudan, René Donzé, Kolumbus ja – Holocaus nein, in: NZZaS, 12.2.2017, S. 20f.
[4] Otto Friedrich Bollnow (1958), Vom Wesen und Wandel der Tugenden. Frankfurt am Main: Ullstein, S. 31ff.