Salzburgs Liebling Anna Netrebko wird sich am Mittwoch noch die Ehre geben und an der Seite ihres Ehemannes Arien schmettern. In einer Opernrolle war sie dieses Jahr nicht zu sehen. Zu sehen und zu hören war allerdings die gesamte Elite der gegenwärtigen Klassik-Interpreten, da lässt sich Salzburg nicht lumpen.
Mein Sechs-Tage-Marathon beginnt mit András Schiff, der seinerseits das Publikum - auf zwei Abende verteilt - auf seinen Marathon durch Johann Sebastian Bachs «Wohltemperiertes Klavier» mitnimmt. Fast drei Stunden lang spielt er auf der Bühne des Mozarteums Bachs Sammlung von Präludien und Fugen durch alle Tonarten. 24 Stücke an einem Abend. Ruhig, konzentriert und unprätentiös sitzt er da und fesselt das Publikum ohne jegliche Ermüdungserscheinungen auf beiden Seiten.
Anderntags eine luftig-leichte Mozart-Matinee mit dem jungen Schweizer Pianisten Francesco Piemontesi und dem Konzert für Klavier und Orchester. Das kommt gut an beim Mozart-geübten Salzburger Publikum.
Currentzis Superstar
Am dritten Tag dann Teodor Currentzis. Seit seinem Debut in Salzburg mit „Clemenza di Tito“ im vergangenen Sommer, ist er hier Superstar und der erklärte Liebling. Mit seinem russischen Orchester musicAeterna hat er sämtliche neun Beethoven-Sinfonien aufgeführt. An einem Abend jeweils zwei. Die Karten waren ausverkauft, kaum dass der Vorverkauf begonnen hatte. „Suche Karte“ steht auf zahlreichen Zetteln, die vor Beginn des Konzertes draussen auf der Strasse vor dem Mozarteum noch mit hoffnungsvollem Blick hochgehalten werden. Vergeblich. Und im Kartenbüro verdrehen die Damen hinter dem Schalter nur noch die Augen, wenn jemand nach Currentzis fragt. „Wir legen nicht einmal eine Warteliste an, es besteht keine Chance auf einen Platz…“ heisst es da nur.
Im Foyer hört man auffällig viel Russisch. Die Russen sind offensichtlich stolz auf den Adoptivsohn aus Griechenland, der in Russland Russe wurde und das, was er ist: eine Ausnahmeerscheinung im Klassik-Bereich. Und so klingt bei ihm auch die Fünfte Sinfonie, deren erste Töne zu den bekanntesten in der gesamten Musik gehören, ganz anders. Es sind die selben Noten und doch bekommt man das Gefühl, sie zum ersten Mal zu hören. Wie immer in schwarzer Kosakenbluse, hautengen Hosen und Schnürstiefeln mit rotem Bändel, gibt er sich voll ein, tanzt, tänzelt und formt mit Armen und Händen den Klang. Seine Musiker hat er fest im Blick und sie reagieren auf die kleinste Anweisung. Immer wieder faszinierend. Der Jubel ist so gross, dass Currentzis am Schluss noch einmal den berühmten ersten Satz spielt, als Zugabe.
Mehr Pomp
Bedeutend mehr äusseren Pomp gibt es bei den Veranstaltungen in den Festspielhäusern und in der Felsenreitschule. Schon die Vorfahrt der Gäste ist eine Show für sich. Schwarze Limousinen gleiten fast lautlos, eine nach der anderen, vor die Eingangstreppe, halten perfekt positioniert vor der Kamera des ORF, dann steigen sie aus: die Reichen, die Wichtigen, die Schönen und die Möchtegerns. Natürlich auch junge Frauen auf High Heels, tiefdekolletiert und in teuren Gewändern am Arm älterer Herren, die es zu etwas gebracht haben. Alle werden begutachtet und kommentiert von jenen, die in kurzen Hosen und Flipflops Eiscreme-schleckend auf der anderen Strassenseite stehen. Auch sie sind Bestandteil der Salzburg-Show.
Auf der Bühne gibt es dann Bemerkenswertes zu sehen. „The Bassarids“ in der Felsenreitschule zum Beispiel, „ein Meisterwerk der Kompositionskunst“, wie es Dirigent Kent Nagano umschreibt. Hans Werner Henze hatte die Oper vor über fünfzig Jahren für die Salzburger Festspiele geschrieben. „Heute sieht man das Werk aus einer ganz anderen Perspektive“, sagt Nagano. Früher sei es mutig gewesen, diese neue Musik-Sprache einzuführen. Heute aber sind die Hörgewohnheiten anders.
Nagano interpretiert auch die Anweisungen Henzes entsprechend sensibel. Regisseur ist Krzystof Warlikowski, ein Pole, der sich international durch sehr eigenwillige Inszenierungen einen Namen gemacht hat. Die Bassariden sind Bürger Thebens, die sich vom Dionysus-Kult hinreissen lassen. „Das bietet viele Perspektiven“, so Warlikowski und weist auf Europa hin, das sich durch die Stimmen der Rechtsradikalen einlullen lasse. „Im 20. Jahrhundert passiert etwas, das wir eigentlich schon als abgeschlossen geglaubt hatten“, sagt er. Oft fühle er sich als Pole fremd im eigenen Land. Herausgekommen ist eine atemberaubende Aufführung, die an Pasolinis Film „Salò“ erinnert, gespenstisch, beklemmend und faszinierend. Ein Albtraum, von dem man weiss, dass so vieles Realität ist. Schauspielerisch, gesanglich und auch tänzerisch auf höchstem Niveau. Eine der Sternstunden der diesjährigen Salzburger Festspiele.
A star is born
Das gleiche gilt für „Salome“, die ebenfalls in der Felsenreitschule aufgeführt wird. Die grosse Bühne wird hier zum coolen, ästhetischen Gesamtkunstwerk von Romeo Castellucci, der gleich für alles zuständig ist: Regie, Bühne, Kostüme und Licht. Verantwortlich dafür, dass „Salome“ zur überwältigenden Produktion wird, ist aber in erster Linie die litauische Sopranistin Asmik Grigorian. Sie ist die Entdeckung dieses Jahres, oder wie man auch sagen könnte: a star is born. Mit ihrem jungmädchenhaften Aussehen im unschuldigen weissen Kleidchen entspricht sie so gar nicht der schwülstigen Erscheinung mancher Salome-Sängerin. Und die Stimme: hell, klar und äusserst präsent.
Dirigent ist Franz Welser-Möst, der sieben Jahre lang musikalischer Leiter des Opernhauses Zürich war und seither Chefdirigent des Cleveland Orchestras ist. Er hat sich zwar zwischen zwei Vorstellungen der „Salome“ bei Arbeiten in seinem Garten den Meniskus gerissen, ist aber trotzdem am Abend mit vollem Einsatz dabei.
Der Jubel für alle Beteiligten ist gross. Für Asmik Grigorian noch ein bisschen grösser.
Ärgernis
Schwieriger ist es mit Claudio Monteverdis „L‘Incoronazione di Poppea“. In der Titelrolle eine der zurzeit am meisten gefeierten Sängerinnen: Sonya Yoncheva. Musikalisch geleitet von William Christie, einem der renommiertesten Barock-Spezialisten, dazu sein Orchester „Les Arts Florissants“. Alles bestens? Mitnichten. Wenn man nur hinhört, bekommt man Monteverdi vom Allerfeinsten. Und wenn man auf die Bühne schaut, wird der Abend zum Ärgernis. Jan Lauwers steht für Regie, Bühne und Choreographie. Er kommt aus der freien belgischen Theater- und Tanz-Szene, hat aber ganz offensichtlich keine Vorstellung davon, wie man Sänger auf der Bühne agieren lässt, und füllt den Raum mit umherhüpfenden Tänzern und Tänzerinnen. Sie machen was sie wollen, mal dies, mal das und einer dreht sich unablässig um sich selbst, so dass einem als Zuschauer zünftig schwindlig wird. Schade um die schöne Musik, schade um die grossartige musikalische Interpretation.
Jedermann sieht „Jedermann“
Salzburg profiliert sich aber nicht nur musikalisch, es gibt auch Schauspiel. Den „Jedermann“ natürlich, den jedermann auch mal gesehen hat, der die Salzburger Festspiele besucht. Daneben aber auch eine Ein-Mann-Parforce-Leistung unter dem Titel „Kommt ein Pferd in die Bar…“ Samuel Finzi, bekannt aus vielen Fernsehkrimis, spielt die szenische Umsetzung eines Textes des israelischen Schriftstellers David Grossmann. Mavie Hörbiger, die weibliche Darstellerin, könnte man als bessere Statistin bezeichnen, die ab und zu ein Wort sagen darf, damit Finzi kurz Luft holen kann. Es geht um die Lebensbeichte eines Mannes namens „Dovele“, das Publikum soll gewissermassen über ihn zu Gericht sitzen. Es geht um Schuld und Vergebung, das ganze situiert in Israel. Die Sache ist nicht ohne Humor, deftig, frech und ohne political correctness, aber nicht immer ganz einleuchtend. Die schauspielerische Leistung über mehr als zwei Stunden ist allerdings beachtlich.
Und da wäre dann noch Frank Castorf, der Berserker unter den Theater-Regisseuren. Kaum hat er die Berliner Volksbühne (unfreiwillig) verlassen, tut er sich an anderen Spielorten um. Jetzt also in Salzburg. „Hunger“ heisst das Stück, das er nach castorf’scher Manier aus dem Roman von Knut Hamsun zusammengebastelt hat. Spielort ist die alte Saline auf der Perner-Insel. Es dauert sechs Stunden. Klar: Castorf halt. Und wie immer fasziniert sein Umgang mit Innen und Aussen, die durch die Videokamera bildstark vermengt werden. Wirklich folgen kann man der Geschichte nicht, aber Castorf erzeugt durch Schnelligkeit, Musik und grandiose Schauspieler einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Allerdings: vier Stunden hätten auch genügt. Sechs hätten es nicht sein müssen…
Acht Veranstaltungen in sechs Tagen. Das ist aber nur ein kleiner Teil der gesamten Festspiele. Insgesamt gibt es dieses Jahr 206 Aufführungen. An der Spitze liegen die Konzerte mit 89, das Schauspiel bringt es auf 58 Vorstellungen, die Oper auf 38.
Das heisst: 224‘054 Karten werden gesamthaft angeboten und dies zu Preisen bis zu 430 €. Happig. Dabei schütten Sponsoren in Salzburg viel Geld aus und ein grosser Teil kommt aus der Schweiz. Ab nächstem Jahr ist die Kühne-Stiftung mit Sitz in Schindellegi Hauptsponsor in Salzburg.
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Currentzis zu Beethoven
Ganz entspannt sitzt Teodor Currentzis auf der Terrasse, ärmelloses Hemd, strahlendes Lächeln. «Nein, es war nicht meine Idee, sämtliche Beethoven-Sinfonien aufzuführen», sagt er uns. Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser hat ihm den Vorschlag gemacht und Currentzis zögerte erst einmal. Aber nur kurz. «Jede Sinfonie ist eine ganz andere Welt, sie hat ihre eigene Identität und ihren eigenen Klang. Es ist schwierig, an einem Abend von einer zur anderen zu wechseln». Extreme Tempi spielen da eine Rolle. «Tatsächlich stehen diese Angaben in der Partitur, wir gehen also zur Quelle und zum Ursprung zurück. Und wenn man die Quellen studiert, sieht man, dass Beethoven der Extremist war!» Der Beethoven-Klang, den wir heute lieben, sei einfach der, an den wir uns gewöhnt haben, aber nicht unbedingt der authentische. «Ich versuche, mit meinen Konzerten den richtigen Schlüssel zu finden, um die Tür zu öffnen. Ich glaube daran, dass die Rolle eines Musikers darin besteht, Fragen zu stellen». Antworten zu geben, heisse einen Schlusspunkt zu setzen, so Currentzis.