Direktor Carlo Chatrian nennt sein Festival «eine Wegkreuzung des Kinos und der Ideen». Auf ihr beginnen die Bewegungen am 6. August und steigern sich bis zum 16. August zur sinnbetörenden Dichte. An die 350 Filme sowie Dutzende von Konferenzen und Diskussionen verlangen höchste Aufmerksamkeit und einiges an Durchhaltevermögen, um von der Kreuzung aus jene Wege zu erreichen, die den individuellen Ansprüchen genügen.
Verheissungsvoll und glamourös
Für die Mehrheit der Besucherinnen und Besucher steht fest, dass der schönste Ort des Festivals auch der verheissungsvollste ist und mit den Stars, die von der Bühne herab das Publikum begrüssen, der glamouröseste: die Piazza Grande mit den 8’000 Sitzplätzen für die abendlichen Vorführungen unter freiem und wünschenswerterweise klarem Sternenhimmel.
Auf der Riesenleinwand werden Spielfilme das Publikum unterhalten, begeistern, verzaubern – und zuweilen auch ärgern. Geteilte Meinungen und die unberechenbaren Wechsel zwischen Applaus und Pfeifkonzert sind keine Schicksalsschläge für ein Festival, sondern Manifestationen seiner spannungsvollen Vitalität.
Weltpremieren
Dieser Wirkung in der einen oder anderen Richtung setzen sich auf der Piazza Grande heuer fünfzehn Spielfilme aus: dreizehn aus dem neuesten internationalen Schaffen, einer – als Hommage an Agnès Varda – aus dem Jahr 2008 und ein noch älterer, nämlich der 1963 entstandene «Il Gattopardo» von Luchino Visconti als Hinweis auf die dem italienischen Produktionsunternehmen Titanus gewidmete Retrospektive.
Sieben Filme sind Weltpremieren, zwei – «Pause» von Mathieu Urfer und «Schweizer Helden» von Peter Luisi – stammen aus der Schweiz. «Sils Maria» von Olivier Assayas und «Love Island» von Jasmila Žbanić wurden mit ausländischen Partnern koproduziert.
Hoffen auf den «Pardo d'Oro»
Von der Bedeutung her, die der internationale Wettbewerb bei jedem Festival als Herzstück geniesst, müsste er in Locarno auf der Piazza Grande stattfinden. Aber dort ist jene Publikumstauglichkeit gefragt, die auch für die Bordunterhaltung liberaler Fluggesellschaften gilt. Diese Bedingung erfüllen die für den «Concorso Internazionale» ausgewählten Werke in der Regel nicht. Sie, die das Experiment wagen und gestalterische und inhaltliche Grenzen sprengen sollen, laufen in verdunkelter Umgebung der althergebrachten Art.
Um die Gunst der vom italienischen Regisseur Gianfranco Rosi präsidierten Jury und um den «Pardo d'Oro» bemühen sich siebzehn Filme aus Asien, Europa, Südamerika und den USA. Dreizehn erleben ihre Weltpremiere. Zwei sind von in der Schweiz tätigen Filmschaffenden realisiert worden: «Cure – the Life of Another» von Andrea Štaka und «L'Abri» von Fernand Melgar.
Das älteste Produktionshaus zu Gast
Zu den umsichtig gepflegten Traditionen Locarnos gehören die jeweils mit einer eigenen Publikation informativ präsentierten Retrospektiven. Dieses Jahr wird die 1904 in Neapel gegründete Titanus vorgestellt, das älteste bis heute aktive Produktionshaus Italiens, womöglich sogar der Welt.
Auf der Entdeckungs- und Wiederentdeckungliste stehen 55 Filme, die als Ganzes oder wegen einer inszenatorischen Eigenheit ihren Platz in der Geschichte fanden.
Die Filme aus der Schweiz, in Locarno jahrelang eher randständig geduldet, werden auch dieses Jahr mit 41 Werken in acht der dreizehn Programmsektionen gebührend zur Kenntnis gebracht. Hierfür ist den Solothurner Experten für den Schweizer Film eine Mitverantwortung übertragen worden.
Vielfalt mit Überraschungen
Bereits diese knappe Zusammenfassung verdeutlicht die Vielfalt des Festivals, die so breit und überraschend angelegt ist, dass die Schärfung des Festivalprofils eine schwierige Aufgabe bleibt. Die temporäre Hauptstadt des Films liegt eben nicht an einer einzigen, sondern an mehreren «Wegkreuzungen des Kinos und der Ideen».
Wer zuerst nach links, dann nach rechts schaut und entschlossen neugierig die Kreuzungen überquert, begegnet historisch wichtigen und aktuell interessanten Filmen, welch Letztere dereinst vielleicht die Geschichte ebenfalls würdigt. Die Leinwände Locarnos versprechen jedenfalls den frühen Blick in die Zukunft.
Das Festivalprogramm im Detail unter www.pardolive.ch, welche Internetadresse leider häufig überlastet ist.