Selbst den Satirikern des Landes verschlug es fast die Sprache, nachdem es der Senat vergangene Woche versäumt hatte, für eine Gesetzesvorlage zu stimmen, die lediglich forderte, den Leumund von Waffenkäufern künftig gründlicher zu überprüfen. Vier Monate nach dem Amoklauf eines Jugendlichen in Newtown (Connecticut), der in der Primarschule des Ortes 20 Kinder und sechs Erwachsenen erschoss, waren dieser Vorlage zumindest Chancen auf Zustimmung eingeräumt worden.
Andere Massnahmen, wie etwa ein Verbot des Verkaufs von Sturmgewehren oder übergrossen Munitionsmagazinen, galten in Washington DC zum Voraus als chancenlos. Obwohl Präsident Barack Obama und Vize Joe Biden einiges politisches Kapital darauf verwendet hatten, der National Rifle Association (N.R.A.), der Speerspitze der nationalen Waffenlobby, die Stirn zu bieten und sich für eine verschärfte Gesetzgebung einzusetzen. Eine Massnahme wohlgemerkt, die Umfragen zufolge rund 90 Prozent der Amerikaner, d.h. auch eine Mehrheit der Waffenbesitzer und NRA-Mitglieder befürworten.
Politisches Kalkül vor Menschlichkeit
Doch die Mitglieder des „exklusivsten Clubs der Welt“, wie sich der US-Senat auch nennt, fanden nicht den Mut, für einmal politisches Kalkül hinter Menschlichkeit zu stellen, wie sehr Eltern der in Newtown ermordeten Kinder sie auch darum gebeten hatten. Zwar sprach sich eine Mehrheit der Senatoren für die gründlichere Überprüfung des Leumunds von Waffenkäufern aus, aber nicht in genügend grosser Zahl, um ein allfälliges „Filibuster“ (die Taktik des Dauerredens, um eine Beschlussfassung zu verhindern oder zu verzögern) der Gegner der Vorlage zu verhindern. Dazu hätte es 60 Ja-Stimmen gebraucht.
Am Ende aber befürworteten nur 54 Senatoren die Massnahme, wobei je vier Demokraten ins Nein-Lager und vier Republikaner in jenes der Befürworter wechselten. Die Demokraten sind insofern nicht unschuldig am Ausgang der Abstimmung, als sie es versäumt haben, die Institution des „Filibuster“ abzuschaffen – aus Angst wohl, ihnen könnte dieses Instrument fehlen, sollten die Republikaner dereinst im Senat die Mehrheit gewinnen.
Ist Obama nicht lernfähig?
Auch Präsident Barack Obama bleibt von Kritik nicht unverschont. Er kenne das politische System zu wenig, heisst es selbst aus Kreisen, die ihm freundlich gesinnt sind. Und nicht nur das, er wolle auch nicht lernen oder weigere sich, clevere Leute anzustellen, die ihm beibringen könnten, wie Washington DC hinter den Kulissen funktioniert. Schönen Worten müssten jeweils auch hartgesottene Taten folgen. Wie sonst hätte Obama im Senat lediglich 54 Stimmen hinter sich bringen können, während 90 Prozent der Amerikaner mehr Sicherheit wollten?
Angesichts solcher Realsatire in Washington DC reagierten Amerikas Satiriker, Seismographen kritischer Volksmeinung, eher lau, wo Wut angebracht gewesen wäre. „Wir haben wiederholt gehört, dass das amerikanische Volk wolle, wir sollten auf eine bestimmte Weise stimmen“, liess Andy Borowitz in einem Stück im „New Yorker“ den Vorsitzenden der republikanischen Minderheit im Senat sagen: „Nun, am Ende des Tages haben wir uns entschieden, dieser speziellen Interessenvertretung nicht nachzugeben.“
Ansammlung von Karrieriaten und Sessehockern
Ein anderer konservativer Senator teilte laut Borowitz mit, eine Verschärfung der Waffengesetzgebung hätte die Politiker in Washington so aussehen lassen, als hätten sie nichts Gescheiteres zu tun. Die Abstimmung beweise, sagte angeblich ein Dritter, dass wenn es um Leben und Tod gehe, Amerikas Politiker es dank eines überparteilichen Efforts schafften, die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger zu missachten.
Unverblümter reagierte David Simon, der frühere Polizeireporter der „Baltimore Sun“ und Autor preisgekrönter Fernsehserien. Die Verachtung jedes normal denkenden Menschen für den Senat der Vereinigten Staaten sei nun mit Sicherheit komplett: „Eine eingefleischte Ansammlung von Karrieristen und Sesselhockern, die allein aufgrund ihrer Fähigkeit gewählt und wiedergewählt werden, alle sechs Jahre an den Geldtrögen genügend Bares zu ergattern – und die unbegrenzte Fähigkeit des Kapitals, diese Futtertröge ständig zu füllen -, all dies ist des Respekts oder der Zuneigung eines intelligenten Bürgers nicht würdig.“
Wahlkampfspenden von der Waffenlobby
Anders als Leitartikler, die ihre Indignation verklausuliert ausdrücken, spricht David Simon den Umstand direkt an, dass 42 von 45 Senatoren, die gegen eine verschärfte Waffengesetzgebung stimmten, von der amerikanischen Waffenlobby Wahlkampfspenden erhalten haben. Die N.R.A hat vor den Wahlen im letzten Jahr 8,5 Millionen Dollar allein für Fernsehwerbung und Telefonkampagnen ausgegeben.
Das ist ungleich mehr, als Gruppen wie Michael Bloombergs „Mayors Against Illegal Guns“ ausgegeben haben, um für neue Waffengesetze zu werben. Die Taktik der Waffenlobby basiert dabei zum Teil auf Furcht: Wichtig ist nicht so sehr, wie viel sie einem Politiker direkt bezahlt, sondern wie viel sie dessen Konkurrenten zukommen lassen könnte, falls er ihrer Linie nicht folgt.
"Tote Kinder bedeuten nichts"
2012 hat in den USA die Lobby der Waffenfreunde 73mal mehr ausgegeben als jene Waffengegner. Während im Vergleich zum Jahr 2000 politische Kandidaten heute 91 Prozent mehr Geld in ihre Wahlkämpfe investieren, sind die Ausgaben aussenstehender Gruppen wie der N.R.A. um fast 2500 Prozent gewachsen. Dies nicht zuletzt als Folge eines verhängnisvollen Urteils des Obersten Gerichts des Landes, das zum Schluss gekommen ist, Geldspenden Dritter dürften deshalb nicht begrenzt werden, weil sie freier Rede gleichzustellen seien.
„Unsere Wahlen – und folglich unsere Art des Regierens – sind gekauft worden“, schreibt Autor David Simon auf seiner Webseite: „Statt öffentlich finanzierter Wahlen, statt einer fairen Ausgangslage, statt eines Prozesses, in dem die Qualität der Ideen die Grösse der Wahlkampfkasse übertrumpft, haben wir unser demokratisches Geburtsrecht an das Kapital abgetreten.“ Die Meinung eines Waffenproduzenten, so der Autor, könne so tausendmal lauter tönen als die Stimme trauernder Eltern in Connecticut: „Verglichen mit Profit und politischem Überlebensdrang bedeuten tote Kinder überhaupt nichts.“
Die Angst der Erstklässler
Nach der Abstimmung im US-Senat meldete sich auch Gabrielle Giffords zu Wort, jene demokratische Kongressabgeordnete aus Arizona, der vor zwei Jahren in Tucson ein Attentäter aus kurzer Distanz in den Kopf geschossen hatte. Der Mann tötete daneben noch sechs Menschen und verletzte 12 weitere. Giffords überlebte, kann aber heute nur mit grösster Mühe sprechen, was sie aber nicht davon abhält, sich mit ihrem Mann, einem früheren Astronauten, engagiert für griffigere Waffengesetze einzusetzen.
„Die Senatoren sagen, sie fürchteten die N.R.A und die Waffenlobby“, schrieb die einstige Abgeordnete in der „New York Times“ in einem Meinungsbeitrag: „Ich glaube aber, diese Furcht ist nichts verglichen mit der Angst, welche die Erstklässler in der Sandy Hook Elementary School (in Newtown) empfunden haben, als sie in einem Kugelhagel ihr Leben aushauchten.“
"Schämt euch!"
Die Senatoren, so „Gaby“ Giffords, hätten sich die eher simplen, aber praktischen Lösungen zwar angeschaut, die Gemässigte beider Parteien vorschlugen, doch dann über ihre Schultern auf die mächtige, zweilichtige Waffenlobby zurückgeblickt – und über sich selbst und die amerikanische Regierung Schande gebracht , indem sie es vorzogen, nichts zu tun. Statt nur aus deplatziertem Egoismus zu handeln, hätten diese Politiker das Andenken Tausender von Schusswaffenopfern und deren Angehörigen ehren sollten, die sie baten, etwas zu unternehmen: „Nicht weil das ihre Lieben zurückgebracht hätte, sondern damit ihre Agonie anderen erspart bleibt.“
Einen Akt des Widerstandes inmitten geballter politischer Feigheit war am Tag der Abstimmung in der Senatskammer in Washington DC trotzdem zu registrieren. Pat Maisch ist jene mutige Frau, die 2011 bei der Schiesserei in Tucson, bei der Gabrielle Giffords schwer verletzt wurde, den Schützen daran hinderte, nachzuladen, indem sie ihm das Magazin aus den Händen wrang.
Die 63-Jährige verfolgte auf der Galerie die Beratungen. Nach der Abstimmung stand sie zornig auf und rief mit einer anderen Frau laut „Schämt euch!“ in den Saal. Worauf die Polizei des Kapitols die beide Störefriede unzimperlich von der Galerie entfernte. Wo käme eine mächtige Nation wie die Vereinigten Staaten auch hin, wenn zwei Frauen ihrer tief sitzenden Überzeugung ungestraft freien Lauf lassen dürfen?
Quellen: "The New York Times"; "The Washington Post"; The New Yorker; "Vanity Fair"; The Guardian"