Der nominierte irakische Ministerpräsident, Adel Abdel Mahdi, hat am Freitag seine noch unvollständige Regierung zu einer ersten Sitzung zusammengerufen. Sie fand nicht in der Grünen Zone von Bagdad statt – jener abgeschotteten und befestigten Enklave in der irakischen Hauptstadt, in der einst Saddam seine Paläste errichtet hatte. Diese geschützte Zone wurde 2003 von den Amerikanern übernommen. Aus Sicherheitsgründen war sie vom übrigen Bagdad abgeschnitten und nur mit Sonderausweisen zugänglich. Die Amerikaner und andere Staaten richteten dort ihre Botschaften ein. Die irakischen Parlamente, die zuerst unter amerikanischer Aufsicht, später selbstständig tagten, befanden sich bisher ebenfalls in der Grünen Zone.
Der neue Ministerpräsident erklärte: „Ganz Irak“ sollte Grüne Zone sein, „sicher und von guter Lebensqualität“. Die erste Sitzung der neuen Regierung wurde im alten Parlamentsgebäude durchgeführt, das zu Zeiten von Saddam in Betrieb war. In den letzten Jahren stand es leer.
Zunächst nur 14 von 22 Ministern
Doch die neue Regierung, die am Freitag tagte, war unvollständig. Nur 14 Minister waren zwei Tage vorher, am 24. Oktober, vom Parlament gewählt worden. Wichtige Ministerien blieben unbesetzt. Der nominierte Ministerpräsident übernahm provisorisch die Leitung des Justiz- und des Innenministeriums.
Andere wichtige Ministerposten, wie Finanzen, Erdöl, Bewässerung und Aussenpolitik, gingen an Persönlichkeiten, die als Technokraten bezeichnet werden. Sie haben in früheren Jahren Erfahrung in den betreffenden Ministerien gesammelt und gelten auf ihrem Gebiet als Fachkraft.
Zwei Allianzen
Doch die Ernennung der Minister durch das Parlament war keineswegs reibungslos vor sich gegangen. Schon während der Eröffnungsrede Abdel Mahdis verliessen mehrere Abgeordnete den Saal.
Das irakische Parlament ist in zwei grosse Allianzen unterteilt:
- Einerseits gibt es die „Siegesallianz“, die vom bisherigen Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi angeführt wird. Ihr Name bezieht sich auf den Sieg über den IS, der unter al-Abadi errungen worden war.
- Ihr gegenüber steht die „Eroberungsallianz“. Sie setzt sich aus Milizen zusammen, die sich 2014 zusammenschlossen, um dem „Islamischen Staat“ entgegenzutreten. Kurz zuvor war die damalige irakische Armee zusammengebrochen. Die meisten dieser Milizen stammen aus den schiitischen südlichen Landesteilen. In den letzten Jahren haben sie eine eigene politische Dynamik entwickelt. Ihre Anführer wurden zu Oberhäuptern politischer Gruppierungen, die sich „Parteien“ nannten.
Die grössere der beiden Allianzen erhält den Auftrag, als erste den Versuch zu starten, eine Regierung zu bilden. So sieht es das irakische Verfassungsgericht vor. Ihr Spitzenpolitiker und Anführer wird als provisorischer Ministerpräsident nominiert. Er hat 30 Tage Zeit, um jeden einzelnen seiner Minister und seine Regierung als Ganzes dem Parlament zur Genehmigung vorzulegen.
Rückzug des bisherigen Ministerpräsidenten
Im Irak waren die Parlamentswahlen am 12. Mai 2018 durchgeführt worden. Doch es dauerte bis zum 2. Oktober, bis eine erste Abstimmung im Parlament zustande kam, um den Parlamentssprecher und den Staatschef zu wählen.
Der Staatspräsident beauftragte dann den Altpolitiker Adel Abdel Mahdi mit der Regierungsbildung. Ihm konnten beide Allianzen zustimmen. Der bisherige Ministerpräsident, al-Abadi, hatte auf seine Kandidatur verzichtet, weil er nicht in der Lage gewesen war, trotz versprochener grosser Hilfsgelder, die Unruhen im Südirak, besonders in Basra, zu beenden. Auch konnte er die Forderungen der Demonstranten nicht erfüllen, die reines Trinkwasser, Elektrizität, Arbeitsplätze und ein Ende der Korruption der Politiker fordern.
Zähe Regierungsbildung
Als es nach der Nominierung Adel Abdel Mahdi zum Ministerpräsidenten um die Ernennung der Minister ging, geriet die Regierungsbildung ins Stocken. Alle der vielen verschiedenen Parteien, die in den Allianzen zusammengeschlossen sind, wollten ihre eigenen Kandidaten durchsetzen. Dies führte zu der stürmischen Parlamentssitzung, die am 24. Oktober und in den frühen Morgenstunden des 25. Oktobers stattfand. Parlamentarier, die sich nicht durchsetzen konnten und enttäuscht waren, verliessen das Parlament unter Protest. Acht Ministerposten konnten nicht besetzt werden.
Die Eignung jedes einzelnen Ministers wurde verhandelt. Ziel war es, nicht „Politiker“ mit der Führung der Ministerien zu betrauen, sondern Technokraten, denen eine Mehrheit der Abgeordneten zustimmen konnten. Für die wichtigen und mächtigen Departemente Verteidigung, Inneres und Justiz konnten noch keine Kompromisskandidaten gefunden werden.
Vor Trumps Iran-Sanktionen
Abdel Mahdi hat nun bis zum 6. November Zeit, um eine vollständige Regierung dem Parlament zur Genehmigung vorzulegen.
Zwei Tage vor dem 6. November will Präsident Trump Sanktionen gegen Iran verhängen. Diese sollen auch die iranische Erdölproduktion betreffen. Trump will auch Staaten, die weiterhin Handel mit Iran betreiben, mit Sanktionen belegen. Das könnte wesentlichen Einfluss auf den Irak haben und stellt Bagdad vor schwierige Entscheidungen.
Die irakische Wirtschaft und Politik sind eng mit Iran verbunden. Doch die USA sind ebenfalls eine Stütze Bagdads, namentlich im militärischen Bereich. Vorläufig erklärt Bagdad, man wolle Washington zu einer Ausnahmeregelung für den Irak bewegen. Danach sollte es dem Irak ermöglicht werden, weiterhin Handelsbeziehungen mit seinem östlichen Nachbarland zu pflegen. Ob Trump dies zulassen wird, ist mindestens fraglich.
Pro-Iran und Pro-USA ist überholt
Die ausländischen Beobachter, die sich für die Regierungsbildung im Irak interessieren, fragen in erster Linie: Kommt dort die pro-iranische oder die pro-amerikanische Ausrichtung an die Macht? Doch im Irak selbst ist diese Frage zurzeit nicht wirklich aktuell.
Die beiden Allianzen im irakischen Parlament enthalten Gruppierungen („Parteien“ genannt), die Iran zuneigen, sowie auch andere, die sich von Iran absetzen. Sie streben entweder eine Zusammenarbeit mit den USA an oder sie kämpfen für einen irakischen Nationalismus, der auf Distanz sowohl zu den USA als auch zu Iran geht und der sich beiden Konfessionen gegenüber, Schiiten und Sunniten, tolerant verhält.
Gespaltene Schiiten
Die Sunniten stellen knapp die Hälfte der irakischen Bevölkerung. Sie neigen eher der pro-amerikanischen oder der nationalistischen irakischen Seite zu.
Die schiitische Mehrheit dagegen tendiert generell zu Teheran. Doch die Schiiten sind heute gespalten. Einige ihrer „Parteien“ gehören heute zur „Siegesallianz“, namentlich die grösste von allen, welche die meisten Abgeordneten zählt. Dabei handelt es sich um die „Sayirun“-Partei (die „vorwärts Schreitenden“). Sie wird angeführt vom schiitischen Politiker und Ajatollah-Abkömmling Muqtada Sadr. Umgekehrt haben sich einige sunnitische „Parteien“ der immer noch vorwiegend schiitischen Eroberungsallianz angeschlossen.
Die Protestbewegung im Südirak und in Bagdad richtet sich gegen „alle Politiker“, unter ihnen auch ausdrücklich gegen die pro-iranischen.
Ein Berg von Aufgaben
Ein gemeinsamer Nenner für beide Allianzen ist durch die grossen und dringenden Probleme gegeben, die die künftige Regierung lösen muss. Es geht nicht nur um die Erfüllung der zornig geforderten Anliegen der südlichen Demonstranten. Auch der dringend notwendige Aufbau der vom Krieg zerstörten Städte, wie Mosul, muss endlich vorwärts gehen. Auch die Heimkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen muss ermöglicht und geregelt werden. Dabei handelt es sich vor allem um Sunniten, die noch immer in Lagern ausharren.
Die Landwirtschaft befindet sich in einem katastrophalen Zustand; die Äcker sind trocken, da die Bewässerungssysteme im Krieg zerstört wurden. Schlimmer noch: Die Ströme im Zweistromland Irak werden in Syrien und der Türkei gestaut.
Überzeugungsarbeit
Und natürlich steht eine Lösung der Kurdenfrage oben auf der Prioritätenliste. Ferner muss die neue Regierung versuchen, den Irak aus dem Konflikt zwischen den USA und Iran herauszuhalten, weil dem Land sonst eine Spaltung droht. Schliesslich muss die neue Regierung endlich versuchen, der grassierenden Korruption, welche alle Politiker im Land kompromittiert, Herr zu werden.
Um eine eher technokratische als politische Regierung zu bilden, wie dies der Ministerpräsident will, müssten die zahlreichen Parteien beider Allianzen dazu gebracht werden, Technokraten den Vorzug zu geben und auf die Entsendung eigener „politischer“ Vertreter und Vertrauter zu verzichten. Diese Überzeugungsarbeit muss Ministerpräsident Adel Abdel Mahd bis zum 6. November geleistet haben.