Wie wenn die Verhältnisse in den syrischen Bruderkriegen noch nicht
kompliziert genug wären, wirkt nun ein weiteres Element von Bedeutung auf die verworrenen Kämpfe und Fronten in Syrien ein. Es sind dieTurkmenen.
Die Rolle der Turkmenen
Die Turkmenen sind eine türkisch sprechende Minderheit, die vermischt
mit Arabern und Kurden in den syrischen Grenzgebieten zur Türkei und
auch in den irakischen Grenzzonen lebt. Die Türkei sieht sie sehr
entschieden als "ihre" Leute an. "Brüder" nannte sie Ministerpräsident
Davutoglu kürzlich.
Erblasten aus der Baathistischen Zeit
Die Beziehungen zwischen den Turkmenen und den baathistischen
Regierungen von Damaskus und - früher - auch Bagdad waren stets
angespannt, ähnlich wie mit den Kurden, weil diese nicht arabisch
sprachigen Minderheiten der arabisch nationalistischen der Baath
Partei beider Länder wenig willkommen waren. Über Jahrzehnte hinweg
bestand eine Tendenz, dafür zu sorgen, dass die eigenen Länder,
Syrien wie der Irak, von Arabern bewohnt würden. In vielen Fällen
bewirkte dies, dass arabische Bevölkerungsteile mit Hilfe der
Regierungen Boden, Häuser oder auch ganze Dörfer erhielten, von denen
die Turkmenen - wie auch die Kurden - erklärten, sie gehörten ihnen.
Es gab auch viele Fälle, in denen Teile der beiden
Minderheitsbevölkerungen als nicht-Bürger ihrer "arabischen" Staaten
eingestuft wurden. Das bedeutete oftmals, dass ihren Kindern das Recht aberkannt wurde, staatliche Schulen zu besuchen. Auf keinen Fall durften sie in ihrer eigenen Sprache Schulen betreiben. Teile von
ihnen wurden von ihren eigenen Staaten als staatenlos angesehen und
entsprechend behandelt.
"Brüder" in der Türkei
Was die Haltung des türkischen Staates angeht, so sieht er die
syrischen und die Irakischen Turkmenen als seine Schützlinge an. Im
Fall des Iraks gibt es turkmenische Minderheiten bis tief ins
Landesinnere. Die Städte Kirkuk und Erbil beherbergen relativ grosse
turkmenische Gemeinschaften. Im Falle von Syrien handelt es sich eher um eine Grenzbevölkerung auf der syrischen Seite der einst zu Syrien gehörigen, aber seit 1939 türkischen, Grenzprovinz Hatay oder mit ihrem alten Namen Antiochien.
Zusammenstösse in der Luft über der Grenze
All dies muss man in Rechnung stellen, um zu verstehen, was zurzeit
vor sich geht. Türkische Kriegsflugzeuge haben ein russisches
Kriegsflugzeug im Grenzraum von Hatay abgeschossen. Die Türkei
erklärt, dies sei nach zehnfachen Warnungen geschehen, die dem
russischen Piloten klar machen sollten, dass er sich im türkischen
Luftraum befinde.
Die beiden russischen Piloten konnten sich
auswerfen. Das Flugzeug stürzte brennend ab - auf syrisches Gebiet.
Einer der beiden Piloten soll von "turkmenischen" Kämpfern aufgefunden worden sein. Der andere scheint umgekommen zu sein, möglicherweise erschossen von den gleichen Kämpfern, die sich auf syrischem Gebiet befinden.
Verletzung des Luftraumes?
Die türkische Armee hat eine Karte veröffentlicht, aus der hervorgeht,
dass der russische S24 Jet den untersten südlichen Zipfel der Provinz
Hatay, nur wenige Kilometer lang, von Osten nach Westen durchquert
habe. Doch die Abschussstelle wäre nach der Karte schon auf der
anderen westlichen Seite dieses Zipfels in Syrien gelegen.
"Dolchstoss" sagt Putin
Putin selbst hat bei einem Besuch in Jordanien die definitive
russische Version des Zwischenfalls geliefert. Es habe sich um einen
Dolchstich in den Rücken gehandelt, rief er aus. Die russischen
Flugzeuge hätten über syrischem Gebiet operiert, sagte er. Sie hätten
dort in Kampfhandlungen eingegriffen, in einer Gegend, in der
hauptsächlich aus Russland stammende Terroristen operierten. Es habe sich demzufolge um defensive Kampfhandlungen gegen eine Gruppe gehandelt, die jederzeit nach Russland zurückkehren könne.
Warnungen aus Ankara im Vorfeld des Geschehens
Die türkische Seite erklärte, der russische Botschafter in Ankara sei
am Montag, wie schon mehrmals zuvor, ins türkische Aussenministerium einberufen worden, um einen Protest gegen die russischen Bombenangriffe entgegenzunehmen, die sich gegen turkmenische Dörfer im syrisch-türkischen Grenzraum richteten. Er sei gewarnt worden, solche Aktionen. so nah an der türkischen Grenze, seien gefährlich.
Die Türken an der Seite der Türkmenen
Die turkmenischen Kämpfer werden offenbar von der Türkei ausgebildet und bewaffnet. Sie bilden einen Teil der mannigfaltigen Kampfgruppen gegen Asad, die in russischen Augen alle Terroristen sind. Die Türkei jedoch hat eine besondere Verwendung für diese turkmenischen Partisanen. Sie möchte sie einsetzen, und hat damit offenbar auch schon begonnen, um ihren Plan einer "IS - freien" Zone auf der syrischen Seite der türkisch-syrischen Grenze durchzusetzen.
Dieser Plan besteht schon seit langer Zeit. Doch Erdogan, der ihn propagiert, konnte ihn bisher nicht verwirklichen, weil ihm die berühmten "Stiefel" auf der Erde fehlten, welche es braucht, wenn man ein Territorium militärisch besetzen und verteidigen will. Die eigene
Armee will die Türkei nicht zu diesem Zweck über die Grenze schicken - jedenfalls nicht, solange die Amerikaner sich weigern, ihre Soldaten dort zu engagieren.
Eine Sperre gegen die Kurden
Die Kurden - syrische sowie irakische und sogar türkische
Staatsangehörige - wären bereit, die Grenzzone zu besetzen, weil es
dort drei grössere kurdisch-majoritäre Enklaven gibt. Die Kurden
möchten sie untereinander verbinden und ein kurdisches Territorium
schaffen, das bereits einen Namen besitzt: "Rojawa", auszusprechen
Rodschawa. Den Kurden, unterstützt durch Kriegsflugzeuge der
amerikanischen Koalition, ist es gelungen zwei dieser Gebiete, jenes
von Qameschli und das von Kobane, IS zu entreissen - nach schweren
Kämpfen im vergangenen Jahr. Die dritte Enklave, Afrin, liegt weiter
im Westen, sie wird zurzeit von kurdischen Gruppen regiert und
verteidigt.
Jedoch zwischen ihr und den beiden anderen bereits
zusammengeschlossenen kurdischen Gebieten bleibt eine Lücke von rund 90 Kilometern. Bisher hat IS Teile dieser Lücke beherrscht, andere
Kräfte des Widerstands gegen Asad sind ebenfalls präsent. Die Türkei
will um jeden Preis vermeiden, dass Kurden - weder syrische noch
irakische noch türkische - diese Lücke schliessen und damit ein
"Kurdistan" entlang der ausgedehnten und weit offenen türkischen
Südgrenze errichten. Auf der anderen Seite dieser Genze leben
ebenfalls Kurden, türkische Kurden natürlich.
Deshalb will Ankara dringend die gegenwärtig bestehende letzte nicht
von Kurden beherrschte Lücke der Grenze mit Kräften füllen, die als
türkei-freundlich eingestuft werden können. Die Turkmenen können
diesem Ziel dienen. Aus Ankara verlautet, ihren Kämpfern unterstützt
durch amerikanische und türkische Luftstreitkräfte sei es am
vergangenen Montag gelungen, zwei Dörfer in dieser Zone nah an der
türkischen Grenze, IS zu entreissen und in Besitz zu nehmen.
Fünf feindliche Gruppen gegen den türkischen Plan
Doch die Turkmenen sind zu wenige, um sich alleine zu behaupten - besonders wenn ihre Gegenwart in der Grenzzone die Feindschaft der Kurden und des IS, sowie der Reste der nicht-islamistischen Kämpfer gegen Asad (FSA und verwandte Gruppen) , Asads selbst und obendrein noch der
russischen Luftwaffe auf sich ziehen. Was unvermeidbar sein dürfte,
falls sie ernsthaft versuchen, die 90 Kilometer lange Grenzlücke und ihr Hinterland
nördlich von Aleppo militärisch zu kontrollieren. Trotzdem begann
Ankara die turkmenischen Kämpfer einzusetzen und hofft wohl, in der
Lage zu sein, ihnen unter der Hand genügend Hilfe zukommen zu lassen, dass sie sich zu behaupten vermögen.
Der türkische Plan einer "Sicherheitszone" an der türkischen Grenze
widerspricht den Zielsetzungen der Russen. Moskau hat sich engagiert, ganz Syrien als einheitlichen Staat zu erhalten und zunächst der von ihnen als einzig legal angesehenen Regierung Baschar Al-Asads zu unterstellen. Die Zukunft Syriens, so die russische Formel, sollten dann die Syrer bestimmen, mit oder ohne Asad, aber jedenfalls als geeingter Staat mit seinem gesamten bisherigen Territorium.
Nicht der erste Flugzeugabschuss in dieser Konfliktregion
Die sich widersprechenden Positionen Russlands und der Türkei bilden
den Hintergrund, vor dem sich die Auseinandersetzungen über die
Lufthoheit im Grenzgebiet abspielen. Der Abschuss eines russischen
Flugzeugs ist nur der jüngste und drastischste Schritt innerhalb des
Streites. Anfang Oktober gab es bereits von der Türkei erklärte
Verletzungen der türkischen Lufthoheit durch russische Kriegsflugzeuge
und den Abschuss einer nach türkischen Angaben russischen Drohne,
begleitet von diplomatischen Demarchen gegenüber dem russischen
Botschafter in Ankara und türkischen Warnungen.
Noch zuvor, im Jahr 2012, war es zum Abschuss eines türkischen und dann eines syrischen Kriegsflugzeug im gleichen Grenzraum gekommen. Damals waren die Regeln über Feuereröffnung von der türkischen Seite verschärft worden. Die Türkei
warnte öffentlich, ihre Luftwaffe habe Befehl, mit aller dankbaren
Energie den türkischen Luftraum zu verteidigen und keinerlei noch so
geringe Übergriffe zu dulden. Die Türkei hat auch bereits die Nato
angerufen und daran erinnert, dass die Nato-Partner gehalten seien,
die türkische Grenze zu verteidigen, wenn sie angegriffen werde. Nato
bestätigte dies.
Noch mehr Flüchtlinge
Was die Turkmenen an der Hatay Grenze betrifft, so sind einige ihrer
Dörfer Ziele von russischen Luftangriffen geworden. Die Dorfbewohner
sehen sich in Gefahr und haben begonnen, auf der türkischen Seite der
Grenze Zuflucht zu suchen. Etwa 1300 turkmenische Flüchtlinge aus
Syrien sind bereits in der Türkei eingetroffen. Als "Volksgenossen"
wurden sie auf der türkischen Seite sehr viel freundlicher aufgenommen
als die gewaltige Masse von arabischen Flüchtlingen aus Syrien, die
von der Türkei auf ihrer Seite der Grenze beherbergt werden - nicht
ohne Reibungen mit der einheimischen Bevölkerung.
Die Zahl der syrischen Turkmenen im Grenzraum soll etwa 35 000 Personen betragen. Dass sie nun ganz oder teilweise durch russische Bombardierungen aus ihren Dörfern vertrieben werden, verschärft natürlich die zwischen Ankara und Moskau bestehenden politischen Gegensätze und ist damit auch ein gewichtiges Motiv, das die Reibungen über die Lufträume im Grenzbereich mit bedingt und verschärft.