Die Eskalation zwischen Israel und den Islamisten des «Islamischen Jihad» im Juni war noch nicht in Vergessenheit geraten, als im Westjordanland eine neue – und möglicherweise gefährlichere – Entwicklung ausbrach und die Schlagzeilen zu erobern begann. Es ging – und geht weiterhin – um die Kontrolle der von Palästinensern bewohnten Stadt Jenin.
Zumindest kurzfristig, denn langfristig geht es um weit mehr: Die Kontrolle der Teile des historischen (oder zumindest geographischen) Palästina, die Israel im Sechstagekrieg erobert hatte und in denen nach internationalem Verständnis und dem Konzept der «Zwei-Staaten-Lösung» ein arabischer Staat neben Israel entstehen sollte.
«Staat Palästina» als Fata Morgana
Im «Oslo-Abkommen» von 1995 hatte man die Weichen in diese Richtung zu stellen gehofft, Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus:
Auf dem Papier entstand zwar bereits in Oslo der «Staat Palästina» mit dem damaligen (und inzwischen verstorbenen) PLO-Führer Yasser Arafat an der Spitze. Ein wirklicher Staat war dies aber nicht, denn Arafats «Regierung» mit Sitz in Ramallah war und ist bis heute kaum mehr als eine Autonomieverwaltung, die sich die Kontrolle über das Westjordanland mit Israel teilt. (Der Gazastreifen steht unter der Kontrolle der mit Ramallah konkurrierenden islamistischen «Hamas» und anderen radikaleren palästinensischen Gruppen.)
Auf Arafat folgte 2008 Mahmoud Abbas, der es verstand, sich seit 2010 auch ohne Wahlen zu behaupten und der bisher immer wieder mal – wenn auch meist notgedrungen – mit Israel kooperiert hat und «Hamas» damit aus Konkurrenzgründen an mehr Einflussnahme im Westjordanland hindert. Solches hat freilich nicht verhindert, dass die Zahl der «Hamas«- Anhänger dort und deren offene Ablehnung Israels kontinuierlich weiter anstieg. Besonders in letzter Zeit scheint «Hamas» sich zumindest im Gazastreifen eher zurückzuhalten und den Radikalen vom «Islamischen Jihad» das Feld zu überlassen. Und dieser kam denn auch postwendend unter israelische Luftangriffe, die erst nach langwierigen Verhandlungen mit Ägypten und Katar fast ein Ende nahmen.
Gewalt zwischen Siedlern und Islamisten
Bei den Anhängern der Islamisten im Westjordanland hingegen wuchsen Ärger und Wut. Wegen der wiederholten israelischen Provokationen im Zusammenhang mit der Stadt Jerusalem. Diese ist beiden Religionen heilig und wird und von beiden gleichermassen beansprucht. Wiederholt geriet man darüber an den Rand einer breiten und gefährlichen Eskalation. Sie begann in den vergangenen Wochen in den eher dörflichen oder kleinstädtischen Gegenden des Westjordanlandes: Immer öfter wurden Fahrzeuge mit israelischen Kennzeichen dort angegriffen und es kam es zu vereinzelten Überfällen auf jüdische Siedler, die sich – im Gegensatz zu internationalem Recht – in diesen weiterhin besetzten Gebieten niedergelassen haben. Auf beiden Seiten mit Toten und Verletzten.
Diesmal ging es nicht um «Heilige Stätten», sondern immer mehr um Politik und Ideologie der israelisch-palästinensischen Auseinandersetzung: Offener als massvoll ideologisierte Islamisten verbreiten letztere immer hemmungsloser die Forderung nach der Zerstörung Israels, weil das ganze Land doch den Palästinensern gehöre. Und auf israelischer Seite sind seit den letzten Wahlen (und schon zuvor) Parteien und politische Kreise in der Mehrheit, die in immer lauteren Tönen fordern, doch endlich die seit 1967 besetzten Gebiete zu annektieren und die dort lebende arabische Bevölkerung auszusiedeln. Die Drohung einer Konfrontation wuchs immer rascher. Zumal radikale Nationalisten und Orthodoxe in der nationalistischen Rechts-Regierung von Ministerpräsident Netanjahu schon seit ihrer Wahl fordern, Israel solle im Westjordanland mindestens 1000 neue Wohnungen für jüdische Siedler bauen und arabische Häuser, die dem «im Weg» stünden, einfach abzureissen.
Biden kritisiert Netanjahus Expansionskurs
Diese Forderungen haben längst selbst in Washington Kritik und Mahnungen provoziert. Präsident Biden hat den einst von seinem Vorgänger Trump voll unterstützten Annektionskurs Netanjahus wiederholt klar abgelehnt. Aktive und erfolgversprechende Schritte, Netanjahu zu einem Kurswechsel zu bewegen, hat es von Biden bisher freilich nicht gegeben, auch nicht aus der EU. So hat der deutsche Bundeskanzler bei einem Kurzbesuch Netanjahus in Berlin zwar kurz den Begriff der «Zweistaatenlösung» erwähnt, er wurde jedoch nicht diskutiert.
Die Palästinenser in den besetzten Gebieten und zunehmend sogar die in Israel als Staatsbürger Lebenden fühlen sich deswegen wieder einmal hintergangen und vom Ausland im Stich gelassen. Und sie sehen bestätigt, was manche Israeli beim Vorgehen des israelischen Militärs fürchteten: Der Aufmarsch israelischer Truppen vor Jenin und deren Angriffe dort mit Kampfhubschraubern und Drohnen hat nicht nur zum Tod von mindestens acht Palästinensern, zur Flucht von mindestens 3000 und bisher einem palästinensischen Gegenangriff gegen Zivilisten in Tel-Aviv geführt, sondern dies könnte der Beginn einer dritten Intifada sein – eines neuen Volksaufstandes, wie es sie in den 90er Jahren bereits zweimal gegeben hatte.
Kommentare in der linksliberalen Tageszeitung «Haaretz» mahnten deswegen die Radikalen in der Regierung Netanjahu, wenn sie ihren jetzigen Kurs fortsetzten, dann werde dies nur ein Resultat haben: Blut werde fliessen.