Nach 30 Jahren werden bislang im Bundesarchiv verschlossene Dokumente allgemein zugänglich. Im Band DDS 92 (Diplomatische Dokumente der Schweiz aus dem Jahr 1992) beleuchtet die Forschungsstelle Dodis, wie die Schweiz als aussenpolitischer Akteur verheissungsvoll aufbrach, nur um umso brutaler zurückgebunden zu werden.
1990 war das Jahr der europäischen Zeitenwende mit der Implosion des Ostblocks, der Wiedervereinigung Deutschlands und des Untergangs der Sowjetunion, welche Ende 1991 auch formell aufgelöst wurde. Der in der Folge naturgemäss eingeleiteten aussenpolitische Öffnung auch der offiziellen Schweiz setzte das Waterloo der verlorenen EWR (Europäischer Wirtschaftsraum)-Abstimmung vom 06.12.1992 ein jähes Ende, was sich bis heute auf die Führung einer vernünftigen Aussenpolitik negativ auswirkt. Dabei liess sich die Aussenpolitik der Schweiz 1992 vor diesem Schicksalsdatum Ende Jahr durchaus verheissungsvoll an.
Ex-Jugoslawien
DDS 92 zitiert einen bundesrätlichen Bericht, in dem die Schweiz als «Frontstaat» zur Tragödie des gewaltsam zerfallenden Vielvölkerstaates Jugoslawien bezeichnet wird. Das war insofern völlig richtig, als sich damals sehr zahlreiche Jugoslawen aus allen Teilen des Balkanstaates als Saisonniers in der Schweiz befanden. Entsprechend bestand Gefahr einer Ausweitung des Konfliktes auf unser Land.
Zahlreich waren vor allem – und dies gilt bekanntlich weiter – albanischstämmige Kosovaren, deren Siedlungsgebiet letztlich zum unabhängigen Staat Kosovo werden sollte. Der Schreibende erlebte Ende der 70er Jahre persönlich die tagelangen Warteschlangen vor der schweizerischen Botschaft in Belgrad – damals noch für das gesamte Jugoslawien zuständig –, von Menschen, welche um eine befristete Arbeitsbewilligung in der Land- und Forstwirtschaft sowie der Bauwirtschaft anstanden. Als der Zeitpunkt 2008 gekommen war, hat die Schweiz «zusammen mit einer repräsentativen Anzahl unserer nächsten Partnerländer» Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt.
Diese Formel war 2008 keineswegs neu, sondern wurde ein erstes Mal angewandt, als die Schweiz in Anbetracht des Zerfalls von Jugoslawien am 01.01.1992 Slowenien und Kroatien als unabhängige Staaten anerkannte, gefolgt von Bosnien-Herzegowina ein paar Monate später. Entgegen der, auch internen Meinung von Neutralitätsnostalgikern entsprachen diese Anerkennungen – welche im serbischen Rumpfstaat von Milosevic nicht goutiert wurden – einer vernünftigen, europakompatiblen Aussenpolitik, welche sich an Realitäten, nämlich dem bedauerlichen aber unwiderruflichen Zerfall von Jugoslawien, und nicht an veralteten Dogmen orientierte.
Weitere helvetische Öffnungen
Ein entsprechender Meilenstein wurde am 17. Mai 1992 gesetzt, als eine Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizern für den Beitritt zu den Bretton-Woods-Organisationen (Weltbankgruppe, Internationaler Währungsfonds IWF) stimmten. Dies notabene vor dem Beitritt zur Uno. Faszinierend in Dodis ‘23 zu verfolgen, wie sich die Schweiz selbstbewusst eine eigene Stimmrechtsgruppe erkämpfte, indem sie Polen anderen europäischen Ländergruppen abspenstig machte – was heute unter EU-Mitgliedsländern unmöglich wäre – und sich mit den damals exotischen zentralasiatischen Ländern und Warschau zur «Helvetistan» Gruppe zusammentat. Ein der aktuellen Schweiz abhanden gekommenes Musterbeispiel, wie die Vertretung von Eigenintressen mit einem international als nützlich anerkannten Vorgehen – die Einbindung der neu unabhängig gewordenen, fünf ehemaligen Sowjetrepubliken in westlich geprägte internationale Strukturen – verkoppelt werden kann.
Ein interner Öffnungsschritt 1992 war die erstmalige Ernennung eines Staatssekretärs für Wissenschaft und Forschung. Damit war die Schweiz international permanent mit einem Vertreter auf der Stufe eines stellvertretenden Ministers präsent, was endlich der Bedeutung des Landes als Schwergewicht in diesem Bereich gerecht wurde.
Hatte Ogi doch recht?
Zurecht verstand der Bundesrat den positiven Bretton-Woods-Entscheid als Fingerzeig, dass auch in der Schweiz die Zeitenwende von 1990 in Europa verstanden worden war. Resolut wurde das schon damals heikle Europadossier in die Hand genommen. Wiederum kann in DDS 92 detailliert verfolgt werden, wie die entsprechenden Diskussionen im Bundesrat verliefen, wurde doch allgemein die enge Verbindung des EWR-Vertrages mit der Frage eines Beitritts zur damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) anerkannt. Die Hauptfrage war nicht, ob dem EWR zugestimmt werden sollte, sondern ob und wie der Beitritt auch in Abstimmungserläuterungen angesprochen werden sollte.
Der Schreibende hat diese Zeit in Bern hautnah verfolgt. Entgegen der landläufigen Meinung, die auch noch heute gedankenlos wiederholt wird, tat damals Bundesrat Ogi das einzig Richtige, indem er den EWR als «Trainingslager» für einen Beitritt bezeichnete. Alles andere wäre einer Irreführung der Stimmbürger gleichgekommen.
Auch international sahen das die damals mit der Schweiz vergleichbaren Länder so. An einer in DDS 92 zitierten Ministerkonferenz mit Österreich, Schweden und Finnland wurde Bundesrat Villiger klar gesagt, dass klassische Neutralität im neuen Europa keinen Platz mehr habe und keinesfalls ein Hindernis für einen EU-Beitritt sein könne. Dasselbe erfuhr der Schreibende auf Beamtenebene anlässlich einer Dienstreise nach Stockholm und Helsinki zur Abklärung einer allfälligen Fortführung der bis vor kurzem noch üblichen jährlichen Zusammenkunft der vier neutralen Staatssekretäre.
Der wirkliche Fehler des Bundesrates
Innenpolitisch war damals die Perspektive eines Beitritts zur EG – zusammen mit den anderen drei Neutralen, damit in einem für «Brüssel» gewichtigen Verhandlungs-Verbund – bis weit in die politische Mitte voll akzeptiert. Dies auch in der Deutsch-, nicht nur in der Welschschweiz. Hatte nicht die nationale FDP den Beitritt unlängst in ihr Parteiprogramm aufgenommen?
Dann folgte im Frühling 1992 der eigentlich nur taktische, nichtsdestoweniger verhängnisvolle Fehler im Bundesrat: der Beschluss nämlich, der Abstimmung über den EWR im Dezember keine offizielle Kampagne vorauszuschicken: keine Ja-Plakate, keine entsprechenden Annoncen in Zeitungen, Radio und TV. In der damaligen «Pre-social media»-Zeit allenfalls verständlich, aber wohl auch blauäugig im Vertrauen auf den «bon sens» der Stimmbürger und Stimmbürgerinnen.
Die Gegenseite, verkörpert im nationalistischen Gepolter von Blocher und seinem Geldsäckel, liess sich ihrerseits nicht zweimal bitten und verkleisterte die Schweiz bereits während den Sommerferien mit provokativen, gegenüber Europa verleumderischen Annoncen eines angeblichen Drachens aus Brüssel, welcher die Schweiz verschlingen wolle. Die erst im Herbst 1992 einsetzende Gegenkampagne der Linken und der Mitte, und speziell der Wirtschaft kam zu spät, wobei Hochrechnungen zeigten, dass die Zustimmung die Ablehnung übertroffen hätte, wäre die Abstimmung wenige Wochen später erfolgt.
Dimanche Noir
Der 06.12.1992, «dimanche noir», sollte noch stärkere Auswirkungen in der Zukunft haben, als sich das damals ein niedergeschlagener Bundesrat Delamuraz in seinem so überschriebenen Kommentar am Abstimmungssonntag vorgestellt hatte. Bis heute, und wohl noch in absehbare Zukunft hinein, bleibt das Verhältnis der Schweiz zu Europa nachhaltig gestört. In einem Masse, dass ein Beitritt der Schweiz zur EU, wie das eine vernünftige Aussenpolitik – und weitere gewichtige Interessen der Schweiz – eigentlich erfordern würden, in fernerer Zukunft liegt als damals. Bleibt die Hoffnung, dass die europäische Zeitenwende 2021 mit dem Überfall von Putin auf die Ukraine und seinen Kriegsverbrechen dort eine Mehrheit von SchweizerInnen auf den Pfad der Vernunft gegenüber unseren nächsten Partnern auf unserem Kontinent zurückbringt.