„Verräter, Verräter.“ Mit diesen Worten wurde Ministerpräsident Giuseppe Conte am Dienstagmorgen im Römer Palazzo Madama, dem Sitz des Senats, empfangen.
Nachdem die grosse Kammer, das Abgeordnetenhaus, der neuen Regierung am Montag mit komfortabler Mehrheit das Vertrauen ausgesprochen hatte, musste Conte am Dienstag im Senat um jede Stimme kämpfen.
Deutliche Mehrheit
Matteo Salvini, der im Senat sitzt, nutzte seinen zwanzigminütigen Auftritt für wüste Anschuldigungen an die neue Regierung. Die Lega-Senatoren pöbelten und pfiffen.
Schliesslich sprach der Senat der neuen Regierung, die aus den Cinque Stelle, den Sozialdemokraten und der Linkspartei „Liberi e Uguali“ (LeU) besteht, mit überraschend deutlicher Mehrheit das Vertrauen aus. 169 Senatoren und Senatorinnen stimmten für die Regierung Conte-bis, 133 dagegen. Fünf enthielten sich der Stimme. Einige wenige Fünf-Sterne-Abgeordnete und Sozialdemokraten votierten gegen die Regierung. Das war zu erwarten.
Die Rechtspopulisten haben einen Alliierten verloren
In seiner Regierungserklärung hatte Conte am Montag ein klares Bekenntnis zu Europa abgelegt. Damit setzte er sich klar vom EU-feindlichen Gehabe des entmachteten Lega-Chefs Salvini ab. Nationale Interessen zu verteidigen bedeute nicht, sich als Nation zu isolieren, sagte Conte. Er versprach, mit der EU konstruktiv zusammenzuarbeiten. Die Ernennung des früheren sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni zum EU-Kommissar für Wirtschaftsfragen, wird die Zusammenarbeit beflügeln.
Viktor Orbán, Marine Le Pen und all die anderen Rechtspopulisten haben einen wichtigen Alliierten verloren. Italien ist nach 14 Salvini-Monaten in den Schoss der EU zurückgekehrt. „Europa, wir sind wieder da“, heisst es in Regierungskreisen.
Die Häfen blockieren?
Auch in der Flüchtlingspolitik will die neue Regierung eine andere Politik verfolgen, und zwar eine „menschlichere“. Gegen illegale Migranten will sie allerdings weiter vorgehen. Die Schlepperbanden sollten energisch bekämpft werden. Von Europa verlangt die neue Regierung „endlich“ Solidarität. Die EU müsse Italien bei der Unterbringung der Boat People helfen.
Die Lega reagiert mit Protesten und Drohungen. Salvini rief am Montag zum Ungehorsam auf. Er kündigte an, er und seine Anhänger würden die Häfen blockieren und die Ankunft von Flüchtlingen verhindern. Auch im Abgeordnetenhaus war es am Montag zu Pöbeleien gekommen. 14 Mal hatten Abgeordnete der Lega und der postfaschistischen „Fratelli d’Italia“ Contes Rede mit Pfiffen und Zwischenrufen unterbrochen. „Neuwahlen, Neuwahlen!“, schrien sie.
„Kommunistische“ Regierung
Während Conte am Montag seine Regierungserklärung abgab, demonstrierten vor dem Römer Montecitorio-Palast, wo sich die Abgeordnetenkammer befindet, einige hundert Militante der Lega und der Fratelli d’Italia. Nicht dabei waren Berlusconi-Anhänger. Einige der Manifestanten zündeten Rauchpetarden. In Sprechchören wurde die neue Regierung als „kommunistisch“ bezeichnet. Lega-Chef Salvini hat für den 19. Oktober in Rom zu einer Grossdemonstration gegen die neue Regierung aufgerufen. Weitere sollen folgen.
Auch rechtsextreme Einträge in den sozialen Medien schürten in den vergangenen Tagen Hass gegen die Regierung. Am Montag wurde bekannt, dass die Facebook- und Instagram-Portale der rechtsextremen Organisationen Casa Pound und Forza Nuova gesperrt wurden.
„Arroganter Salvini“
Conte hatte in seiner anderthalbstündigen Rede vor den Abgeordneten eine neue Regierungskultur angekündigt. Dabei sparte er nicht mit harten Vorwürfen an Matteo Salvini. Salvini hatte immer wieder mit selbstherrlichen, beleidigenden und verletzenden Tönen von sich reden gemacht. Viele seiner Jünger im Parlament stehen ihm nicht nach.
Die Worte der neuen Regierung würden „milde“ und „nicht arrogant“ sein, sagte Conte. „Wir werden einen „angemesseneren und respektvolleren Wortschatz“ verwenden, betonte er.
„Menschliches Antlitz“
Conte bemühte sich, den teils unmenschlichen Ruf, den Italien unter Salvini erlangt hat, zu korrigieren. Der Regierungschef zitierte einen Satz des früheren sozialdemokratischen Staatspräsidenten Giuseppe Saragat: „Handelt so, dass das Antlitz dieser Republik ein menschliches Antlitz hat.“
Im Zentrum von Contes Regierungserklärung stand die Wirtschaft. Italien wachse, trotz der vielen Trümpfe, die das Land habe, unter dem gesamteuropäischen Durchschnitt. Dieser Trend müsse rückgängig gemacht werden. Conte will Innovation und Digitalisierung fördern und – endlich – eine Entbürokratisierung in die Wege leiten. Italien müsse wieder ein lebenswertes Land werden, auch für Junge, die in den letzten Jahren scharenweise ins Ausland abwanderten.
Keine horrenden Bussen für Seenotretter
Er kündigte eine Justizreform und eine Steuerreform an. Hauptziel sei es, eine Erhöhung der 22-prozentigen Mehrwertsteuer, mit der die frühere Regierung kokettiert hatte, zu vermeiden. Im Weiteren will die Regierung einen Mindestlohn einführen. Ferner will er das Parlament verkleinern und ein neues Wahlgesetz durchsetzen.
Das von Salvini aufgegleiste umstrittene Sicherheitsdekret soll revidiert werden. Das Dekret sah unter anderem horrende Bussen für Seenotretter vor. Die regionale Autonomie müsse zugunsten eines funktionierenden Service public verstärkt werden. Der Wiederaufbau in den Erdbebengebieten soll intensiviert werden. Er werde den betroffenen Regionen in L’Aquila, Norcia und Amatrice bald einen Besuch abstatten, sagte Conte.
Keine Liebesheirat
Die neue Regierung – es ist die 66. Nachrkiegsregierung – steht vor Mammutaufgaben. Die Bevölkerung in Italien ist traditionell ungeduldig. Regierungen leben im Durchschnitt nur 13 Monate lang. Conte und seine Truppe müssen schnell Ergebnisse liefern. Das ist angesichts der schwerfälligen, defekten und festgefahrenen Strukturen fast ein Ding der Unmöglichkeit.
Die Gefahr besteht, dass sich die beiden Regierungspartner schnell in die Haare geraten könnten, wenn es um konkrete Massnahmen geht. Ideologisch politisieren die 5 Sterne und die Sozialdemokraten alles andere als auf der gleichen Linie. Die jetzt zelebrierte Harmonie ist eine Schein-Harmonie. „Es ist keine Liebesheirat“, erklärten am Montag Vertreter der Cinque Stelle. „Aber jetzt bekehren wir die Sozialdemokraten.“ Das wird wohl kaum gelingen.
Salvinis Sündenbock-Politik
Salvini, tief gekränkt und davongejagt, wird keine Gelegenheit verstreichen lassen, die Regierung anzuschwärzen. Er verfügt über ein Heer professioneller „Influencers“, Einpeitscher und Demagogen und bespült das Land täglich mit Tweets und Videos. In den sozialen Medien ist er der unangefochtene König. Das zeigt Wirkung.
Die Probleme sind immer noch die gleichen. Salvini versuchte seine Untätigkeit mit seiner rechtspopulistischen Sündenbock-Politik zu vertuschen. Er gab die Schuld an allem italienischen Übel der EU, Merkel und den Migranten. Dass Italien aber endlich vor der eigenen Tür wischen sollte, ist schwer vermittelbar. Italien hat sich über Jahre hinweg selbst ins Abseits manövriert. Die italienischen Probleme sind grösstenteils selbstgemacht.
„Retter des wahren, stolzen Italien“
Auch das Migrantenproblem bleibt. Unter Conte werden einige Flüchtlingsschiffe in italienischen Häfen anlegen dürfen. Doch bei jedem Rettungsboot, das in Lampedusa oder Catania landet, wird Salvini hinausposaunen, wie die neue Regierung das Land den Migranten „vor die Füsse wirft“.
Conte, so twittert Salvini, sei vor Merkel in die Knie gegangen. Solche Polemik stösst im Belpaese teils auf fruchtbaren Boden. Die angekündigte Blockierung der Häfen wird Salvini genüsslich filmisch dokumentieren und die Videos ins Land hinausschicken. Er selbst wird sich als „Retter des wahren, stolzen Italien“ in Szene setzen.
Viele sind skeptisch
Die Lega ist noch immer die stärkste Partei. Trotz Verlusten kann sie laut letzten Umfragen auf etwa 32 Prozent der Stimmen zählen. Aus diesem Grund leitet sie das Recht ab, das Land regieren zu können. Staatsrechtler weisen darauf hin, dass in einer parlamentarischen Demokratie nicht zwangsläufig die wählerstärkste Partei regiert, sondern die Partei oder die Koalition, die im Parlament die Mehrheit hat. Das wollen die Rechtpopulisten nicht akzeptieren.
Alles hängt nun davon ab, ob es Conte und seiner Regierung gelingt, Vertrauen zu gewinnen und rasche Verbesserungen vorzuweisen. Die Legislatur dauert bis 2022. Die neue Regierung sollte also knapp drei Jahre im Amt bleiben. Viele in Italien sind skeptisch, ob ihr das gelingt.