Mit einer schmerzhaften Klatsche hatten die drei Parteien der Berliner «Ampel»-Koalition wohl gerechnet. Doch dass die Europawahl am 9. Juni für Sozialdemokraten, Grüne und Liberale dermassen katastrophal ausgehen würde, hat dann doch überrascht. Zumal der eigene Niedergang einherging mit einem nahezu triumphalen Abschneiden der rechtsextremistischen «Alternative für Deutschland» (AfD) in allen ostdeutschen Bundesländern.
Das kann nicht ohne Auswirkungen auf das politische – vor allem das innenpolitische – Geschehen bleiben. Beginnt sich die deutsche Landschaft braun einzufärben?
Es ist ja richtig, dass die Kreuzchen auf dem Wahlzettel über die Zusammensetzung des künftigen Europäischen Parlaments entschieden. Also nicht über eine nationale (oder gar regionale) Volksvertretung. In Wirklichkeit jedoch liess sich die überwältigende Mehrheit der Wahlberechtigten zwischen Flensburg und Konstanz sowie Rhein und Oder bei der Stimmabgabe nahezu ausschliesslich von innenpolitischen Überlegungen leiten. Auf den Punkt gebracht: Von ihrem Ärger, ihrer Wut und ihrer Enttäuschung über die Politik der rot-grün-gelben Bundesregierung. Zu Recht oder Unrecht – immer mehr Bürger fühlten sich mit ihren Ängsten und Sorgen von «denen da oben» nicht mehr ernstgenommen.
Und zwar nicht erst seit heute. Allerspätestens seit den bayerischen und hessischen Landtagswahlen im vorigen Herbst war für jedermann erkennbar, dass die als unkontrolliert empfundene Migration vor allem aus Nahost und Zentralafrika vielen Menschen zunehmend Sorgen bereitete. Meldungen über spektakuläre Kriminalfälle taten ein Übriges. Angebliche oder auch tatsächliche Betrügereien bei Sozialleistungen, Messerstechereien – alles Wasser auf die Mühlen vor allem der AfD. Weil die verantwortliche Politik, ausser Floskeln, kaum Lösungen anbot, sondern meistens nur das Bild eines zerstrittenen Haufens abgab.
Sämtliche Alarmglocken sollten schrillen
Allein schon vor diesem Hintergrund sind die «Abstürze» der Ampel-Koalitionäre in der Wählergunst erklärbar. Das gilt besonders für die Grünen, in denen noch vor wenigen Jahren vor allem junge Menschen regelrechte Hoffnungsträger sahen. Und denen natürlich am wenigsten verziehen wird, dass Regierungsbeteiligung oft genug schmerzliche Kompromisse erzwingt. Aber dass eine als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei wie die AfD in allen ostdeutschen Ländern (Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und Brandenburg) zur mit Abstand stärksten Kraft gekürt wurde, musste eigentlich sämtliche Alarmglocken schrillen lassen.
Und nicht nur das. Eher noch bedrohlicher ist das Ergebnis von repräsentativen Nachfragen bei AfD-Wählern nach deren Beweggründen. Mehr als 80 Prozent gaben an, es sei ihnen völlig egal, ob diese Partei rechtsextremes oder gar nationalsozialistisches Gedankengut in sich trage, «solange sie nur die richtigen Fragen stellt». Mit anderen Worten: Diesen Wählern war sehr wohl bewusst, dass ihr Kreuzchen auf dem Wahlzettel (jedenfalls gedanklich) mit Haken versehen war. Das führt, fast zwangsläufig, zur Frage, inwieweit diese Europawahl sozusagen als Testlauf für die im September anstehenden Urnengänge zur Bildung der neuen Landtage in Sachsen, Brandenburg und Thüringen gelten kann. Überall dort weisen die Umfragen die politischen Rechtsaussen von der AfD als Favoriten aus. Eine Partei also, deren führende Repräsentanten die Zeit der Hitler-Barbarei immerhin auch schon mal als einen blossen «Fliegenschiss der Geschichte» abtaten.
Auswirkungen auf die Bundespolitik
Wohin also treibt diese Republik? Will sie, wollen ihre Bürger, es wirklich zulassen, dass sich in die schwarz-rot-goldene National-Trikolore braune Flecken mischen? Ist es, möglicherweise, kein Zufall, dass der nationalistische Vormarsch in der Volksgunst praktisch zeitgleich erfolgt mit einem Wiedererstarken des Antisemitismus und des Absingens ausländerfeindlicher Lieder zu Schlager-Melodien auf lustigen Partys? Diese Fragen richten sich, logischerweise, an die deutsche Gesellschaft als Ganzes. Aber sie zielen zuvorderst auf die Kräfte, die gewählt wurden, um das Land zu führen, seinen Nutzen zu mehren und möglichst Schaden von ihm abzuwenden. Mithin an die Regierung. Das Ergebnis der Europawahl kann nicht ohne Auswirkung auf das künftige politische Handeln bleiben. Denn bewertet wurde nicht zuvorderst das Geschehen von Brüssel, sondern die Untätigkeit und das Gegeneinander in Berlin.
Im Grunde müsste Olaf Scholz, der Bundeskanzler, im Parlament die Vertrauensfrage stellen. Das wird er natürlich nicht tun. Das wird (abgesehen von verbalen Pflichtübungen) auch die christdemokratische Opposition nicht wirklich von Scholz verlangen. CDU und CSU befinden sich gegenwärtig in der relativ komfortablen Situation, ganz gut beim Wähler davongekommen zu sein und sich als verbliebenen Hüter demokratischer Werte zu präsentieren. Für sie wird die Bewährungsprobe nach den Landtagswahlen im Herbst kommen. Sollte nämlich in den ostdeutschen Bundesländern die AfD wirklich stärkste Kraft werden, wird die CDU beweisen müssen, dass sie – etwa mit vielleicht noch weiter geschrumpften Sozialdemokraten und Grünen – eine Regierungsmehrheit bilden und damit ein Bollwerk gegen Braun bauen kann.
Eines ist nach dieser Europawahl sicher – dass nämlich nichts mehr sicher ist. Schon gar nicht die Berechenbarkeit der Wähler. Mehr als anderthalb Millionen Stimmen sind am Sonntag von SPD, Grünen und FDP zur AfD abgewandert. Die wort- und argumentationsgewandte Ex-Linke Sahra Wagenknecht konnte zudem mit ihrer erst vor einem halben Jahr gebildeten Sammlungsbewegung aus dem Stand mehr als 6 Prozent Stimmen mobilisieren. Und die Jungen (zum Beispiel Erstwähler) sahen mehrheitlich im demokratischen Wahlrecht so eine Art Playstation und versuchten sich an Mini- und Jux-Parteien. Zu den Unsicherheiten gehört auch, ob sich Scholz und seine Koalitionäre nach diesem Nackenschlag nicht am Ende doch noch einmal berappeln und sich auf ihren Amtseid besinnen – nämlich zu regieren und zu entscheiden.