Für die Wahlen ins Europäische Parlament (EP) Ende Mai wird eine deutlich höhere Wahlbeteiligung als bisher erwartet. Früher bewerteten die Wähler vor allem die Leistungen der Parteien in ihrem eigenen Land, so dass die EP-Wahlen letztlich ebenfalls zu „nationalen“ Wahlen wurden. Diesen Effekt wird es immer noch geben.
Aber der Angriff anti-europäischer Kräfte auf die EU als solche wird diesmal länderübergreifend wahrgenommen. Und Verteidiger der Union werden Gegenkräfte ebenfalls länderübergreifend mobilisieren.
Schweizer Paradox
Das Europäische Parlament hat grossen Einfluss auf die Ausgestaltung des EU-Rechtes, auch wenn diesem Gremium ein eigentliches Vorschlagsrecht für die EU-Gesetzgebung noch nicht zusteht, wie dies bei nationalen Parlamenten üblich ist. Ein Grossteil des EU-Rechtes gilt auch In der Schweiz, jedenfalls insoweit die Schweiz am europäischen Binnenmarkt teilnimmt – und diese Teilnahme soll ja demnächst durch den Abschluss eines institutionellen Abkommens definitiv gesichert werden.
Trotzdem können in der Schweiz wohnhafte Personen an den EP-Wahlen nur teilnehmen, wenn sie Staatsbürger eines EU-Mitgliedlandes sind. Wer allein über die schweizerische Staatsbürgerschaft verfügt, ist von diesen Wahlen ausgeschlossen.
Eigentlich ist das ein Paradox: Schweizerbürger haben ein lange und tief verwurzeltes republikanisches Selbstbewusstsein. Sie sind es gewohnt, jene Dinge mitzugestalten, von denen sie selber betroffen sind. Und seit 1971 sind auch die Schweizer Frauen von dieser selbstbewussten republikanischen Identität nicht mehr ausgeschlossen.
Woher kommt sie eigentlich, diese republikanische Identität und worin drückt sie sich aus? Wie in keinem anderen europäischen Land lässt sich in der Schweiz eine Linie von der Französischen Revolution bis zum heute gelebten Republikanismus erkennen. Auf diese Revolution geht in Europa die Idee der Menschenrechte zurück, die Idee von Freiheit überhaupt, durchaus gedacht als Freiheit des Individuums.
Nach der ersten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 wurden in den Revolutionsjahren durch den französischen Nationalkonvent – die Nationalversammlung – zwei Verfassungen verabschiedet, deren eine allerdings nie in Kraft trat, und die andere wurde bald wieder ausser Kraft gesetzt. Bekanntlich mündete die Revolution schliesslich in die Herrschaft Napoleons, der ganz Europa eroberte und dessen imperiales Gehabe die Errungenschaften der Französischen Revolution mancherorts in einem bitteren Licht erscheinen liessen.
Nicht so in der Schweiz, die „dank“ dem Einmarsch der napoleonischen Truppen regional zu ihrer heutigen Form von zunächst 19 Kantonen fand. 1815 fügte der Wiener Kongress noch drei Kantone hinzu und legte damit die heutigen Aussengrenzen des Landes fest. Zwar tat der Wiener Kongress alles, um in Europa die alte vorrevolutionäre Situation wiederherzustellen. Aber in der Schweiz hatten die republikanischen Ideen der Revolution zu sehr Fuss gefasst.
Die französische Julirevolution von 1830 ermöglichte in der Hälfte der Kantone die Verabschiedung von neuen republikanischen Verfassungen. Viele nahmen direktdemokratische Elemente aus den beiden französischen Revolutionsverfassungen auf, ohne dies allerdings offen zu sagen, denn die Revolution war nach wie vor verpönt. Lieber sprach man von alter genossenschaftlicher Tradition oder von den Landsgemeinden, was besser ankam.
Dennoch stammten die grundlegenden Ideen nicht von dort, sondern sie hatten ihre Wurzeln in der Französischen Revolution. Bei der Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 wurden viele dieser direktdemokratischen Elemente in die Bundesverfassung übernommen und später erweitert. Was sich in Frankreich nicht hatte durchsetzen lassen, wurde in der Schweiz verwirklicht.
Freiheit vom und zum Staat
In seiner politischen Kultur unterscheidet sich dieses Land in mancher Hinsicht von jener der Nachbarstaaten. Gegen Norden betrachtet hat der schweizerische Staat den Bürgern gegenüber seit jeher nicht so viel „obrigkeitliche Autorität" wie der deutsche. Und der Blick gegen Westen zeigt, dass die französische Erwartung, „der Staat werde schon alles richten“ hierzulande wenig verbreitet ist. Der schweizerische Staat gehört den Bürgern – heute auch den Bürgerinnen – und wenn etwas nicht mehr stimmt, dann ändern sie es, notabene in den rechtsstaatlich vorgesehenen Verfahren.
Die Freiheit ist deshalb entsprechend ihrer Herkunft aus der Französischen Revolution nicht nur eine „Freiheit vom Staat“, die Bürgerinnen und Bürger vor Eingriffen des Staates schützt. Die schweizerische republikanische Freiheit ist auch eine „Freiheit zum Staat“, wie sie sich in den politischen Mitwirkungsrechten niederschlägt und die über die Wahl der Parlamente hinausgeht.
Das ist aber längst nicht alles, was die republikanische Identität dieses Landes ausmacht. Die Mentalität des „Alles oder Nichts“, welche in der politischen Auseinandersetzung seit dem Aufkommen des Populismus an Boden gewinnt, hat es in der Schweiz schwerer als in anderen Ländern. Dies mag zum Teil mit der Regierungsform zusammenhängen, welche die Regierungsführung nicht – wie anderswo üblich – jener Partei zuweist, die über die grösste Zahl von Sitzen im Parlament verfügt.
In der Schweiz gehören Regierungsmitglieder allen grossen Parlamentsfraktionen an und bilden manchmal wechselnde Koalitionen in einzelnen Sachgeschäften. So wäre es nicht möglich, dass eine rechtspopulistische Partei die Regierung kurzerhand „übernimmt“, wie dies zur Zeit in Ungarn und Polen der Fall ist. Regierungsmitglieder müssen einzeln gewählt werden, und neben ihrer Parteizugehörigkeit spielt auch die Fähigkeit zur Auseinandersetzung eine Rolle, dies eben nicht nach dem Motto „alles oder nichts".
Auch der turnusmässigen Wechsel des Präsidiums wird von einigen als Stabilisierung des Regierungssystems gewertet. Dies stimmt sicher insoweit, als „starke Männer“, wie wir sie heute in Ländern mit rechtspopulistischen Regierungen beobachten können, in der Schweiz wenig Chance haben. Und ganz generell lehnt dieses Land die Personalisierung politischer Macht, wie sie etwa in Präsidialsystemen zum Ausdruck kommt, klar ab.
Neue Abwehrkräfte gegen Rechtspopulismus
Vor allem aber ist die schweizerische republikanische Identität geprägt einerseits von Langsamkeit und andererseits durch Lernprozesse. Das jüngste Beispiel liegt in den vergangenen vier Jahren. Im Februar 2014 erschütterte die Annahme der aus rechtspopulistischen Kreisen lancierten Initiative „gegen Masseneinwanderung“ das Land, weil damit der Zugang zum europäischen Binnenmarkt gefährdet wurde. In die darauf folgende Debatte griff mit einiger Verzögerung, dann aber immer stärker, auch die exportabhängige Wirtschaft ein und stellte sich gegen die Populisten.
Da sich der Rechtspopulismus neben seiner genuinen Ausländer- und EU-Feindlichkeit zunehmend gegen die Gewaltenteilung und gegen das internationale Recht als solches richtete, wurde auch bald die generelle Bedeutung der Rechtssicherheit nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die Wirtschaft zum Thema. In den Abstimmungskämpfen der folgenden Jahre verband sich die Verteidigung der Grundrechte mit der Verteidigung der Rechtssicherheit.
So gelang es, zwei Initiativen aus dem rechtspopulistischen Lager zu verwerfen und die Zustimmung des Volkes zu einer Asylgesetzrevision zu erreichen. Schliesslich wurde die „Selbstbestimmungsinitiative“ mit Zweidrittelmehrheit verworfen, die das Landesrecht über das Völkerrecht hätte stellen wollen.
Die Schweiz hat in den vergangenen vier Jahren die Lektion definitiv gelernt, wie rechtspopulistische Angriffe auf Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit abgewehrt werden können. Dabei spielt auch die Wirtschaftsunverträglichkeit rechtspopulistischer Fundamentalvorstellungen eine Rolle. Jede Politik muss den Bedürfnissen von Handel und der Wirtschaft nach Rechtssicherheit gerecht werden, genauso wie sie jene Regulierungen hervorbringen muss, die zur Sicherung der Grundrechte und für den Zusammenhalt der Gesellschaft notwendig sind.
Diese Einsicht ist in der republikanischen Identität dieses Landes tief verankert und wird in Lernprozessen immer dann wieder erneuert, wenn es zu Angriffen auf diese Grundlagen kommt, die zunächst zu wenig ernst genommen worden sind. So gesehen ist die politische Kultur dieses Landes auch ein seit langem existierendes Experimentierfeld, das aber in entscheidenden Momenten immer wieder zu seinen Grundlagen zurückfindet.
Der Blick über die Schweizer Grenze hinaus
Wenn in der schweizerischen republikanischen Identität Stichworte auftauchen wie die Mentalität des Aushandelns, der Lernprozess in einem Experimentierfeld, die Ablehnung der Personalisierung oder die Prägung durch politische Mitwirkungsrechte – was bedeutet dies alles im Rahmen einer grenzüberschreitenden politischen Verantwortung der Schweiz? Es bedeutet nichts anderes als ein weiteres Argument für den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union.
Die republikanische Identität nach dem Muster der Schweiz mit ihren zahlreichen Hemmschuhen gegen die Mentalität des „Alles oder Nichts“ sollte für die EU nutzbar gemacht werden. Das heisst nicht etwa, dass rechtliche Institutionen einfach übernommen werden könnten, denn die Bedürfnisse der institutionellen Entwicklung der EU sind anders. Vielmehr ist es die Mentalität, mit der man die Weiterentwicklung der Institutionen angeht. Und hier kommt nun noch ein weiteres Element der langjährigen Erfahrung dieses Landes hinzu, nämlich die Bedeutung der Institutionen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Schweizerinnen und Schweizer sprechen unterschiedliche Sprachen, kommen aus sehr verschiedenen Kulturen, haben immer noch eine Vorprägung aus verschiedenen Religionen, und die regionalen Verhältnisse, mit denen sich viele immer noch verbunden fühlen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Das einzige, was sie zusammenhält, sind die gemeinsamen Institutionen, für die sie eine gemeinsame Verantwortung tragen wollen, weil sie wissen, dass ihre individuelle Freiheit letztlich durch diese Institutionen garantiert werden.
Alle diese Elemente zusammen stellen einen erheblichen Schatz republikanischer Erfahrung dar. Dieser Schatz sollte der Europäischen Union zur Verfügung gestellt werden, denn es ist genau dieselbe Entwicklung gemeinsamer freiheitsgarantierender Institutionen, welche sich die EU auf einer geografisch erweiterten Ebene zur Aufgabe gemacht hat, auch wenn dies in absehbarer Zeit nicht zu einem Bundesstaat führen wird. Und die strukturellen Voraussetzungen dafür sind annähernd dieselben, wie sie im 19. Jahrhundert zum föderalen Zusammenschluss der Kantone zur heutigen Schweiz geführt haben.
EU-Beitritt aus republikanischer Verantwortung
Eingangs wurde das eigenartige Paradox erwähnt, dass die Schweizerbürger mit ihrem lange und tief verwurzelten republikanischen Selbstbewusstsein nicht längst nach vollwertiger Mitwirkung in der Europäischen Union und damit nach einem EU-Beitritt verlangen. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite derselben Medaille hat mit republikanischer Verantwortung zu tun. Die EU ist auf die Mitwirkung aller Demokratinnen und Demokraten auf diesem Kontinent angewiesen, insbesondere jener, die über einen so reichen Erfahrungsschatz verfügen, wie er aus der schweizerischen republikanischen Identität hervorgeht.
Vergleicht man die beiden Seiten der Medaille, so haben sie unterschiedliche Auswirkungen. Dass die Schweiz zwar grossmehrheitlich den Zutritt zum Binnenmarkt und damit die Geltung des entsprechenden EU-Rechtes will, auf die Mitwirkung in der EU aber vorläufig verzichtet, dieses Paradox kann man mit dem Ausspruch „selber schuld“ abtun. Eines Tages wird sich diese widersprüchliche Mentalität überlebt haben.
Ungleich wichtiger ist die andere Seite der Medaille, jene der republikanischen Verantwortung, denn sie betrifft unsere republikanische Identität als solche. Eine republikanische Identität, die so lange gewachsen ist und sich in der beschriebenen Weise ausgeprägt hat, bildet die politische Grundstruktur der Bürgerinnen und Bürger, sozusagen ihre DNA. Sie prägt die Menschen als ganze Persönlichkeit, so dass es nicht möglich ist, sie auf Ebene der Schweiz zu leben und sie auf der EU-Ebene zu verdrängen.
Diese Verdrängung beschädigt über kurz oder lang die ganze Identität. Es geht nicht nur um die Verantwortung Europa gegenüber, sondern es geht auch um die Verantwortung für die republikanische Identität, so wie sie innerhalb unseres Landes gelebt wird. Wollen wir unserer Herkunft nicht untreu werden, müssen wir den Beitritt zur Europäischen Union zum öffentlichen Thema machen und ihn so bald als möglich herbeiführen.
Dieser Text ist erstmals als Beitrag zur Webseite der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE erschienen (www.sga-aspe.ch)