Der Konflikt eskaliert – nicht (noch nicht?) grossflächig, aber umso heftiger im Kerngebiet, in dem von Israel besetzten Westjordanland. Die israelische Armee lancierte eben ihren massivsten Einsatz in den Flüchtlingslagern von Jenin und Tulkarem. 15 Palästinenser, laut israelischen Angaben alles Terroristen, kamen bisher ums Leben. Israels Staatspräsident Herzog spricht bereits von einem offenen Krieg.
Die Regierung von Premier Netanjahu rechtfertigt sich mit dem Hinweis, Israel werde zunehmend durch militante Gruppen aus dem Westjordanland bedroht (das Netanjahu Judäa und Samaria nennt), hinter denen Iran stehe. Und verweist u. a. auf einen Palästinenser aus Jenin, der in Tel Aviv einen Anschlag mit einer Acht-Kilo-Bombe verüben wollte und den man gerade noch rechtzeitig entdeckt habe.
Provokative Siedlungsexpansion der Regierung Netanjahu
Dass sich in der Folge des Gaza-Kriegs mit seinen nunmehr schon über 40’000 Toten und (geschätzt) 90’000 Verletzten die Stimmung im Westjordanland zugespitzt hat, ist offenkundig. Aber es ist nicht nur der Konflikt im Gaza-Streifen, der zur Eskalation geführt hat – dafür verantwortlich ist ebenso sehr die immer provokativere Siedlungspolitik der Regierung Netanjahu.
Innerhalb der Regierung sind es vor allem die beiden Rechtsaussen-Minister Ben-Gvir und Smotrich, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner von Siedlungen von derzeit rund 700’000 auf eine Million zu erhöhen. Die bereits bestehenden 130 Siedlungen (alles kleinere oder sogar mittelgrosse Städte) werden konsequent erweitert, und zusätzlich gibt die Regierung grünes Licht auch für die Schaffung von neuen Aussenposten, errichtet oft auf privatem Palästinenserland. Das führt ständig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Siedlern und Palästinensern.
Die Uno registrierte im ganzen Jahr 2022 856 Konfrontationen, dieses Jahr waren es bis August bereits 1270. Die israelische Armee verweist die Siedler nur selten in ihre Schranken – laut Aussagen von Beobachtern nehmen israelische Soldaten meistens Partei zugunsten der Siedler.
Die permanente Gewalt im Westjordanland ist zumindest für Minister Bezalel Smotrich kein Problem, im Gegenteil. Er äusserte, man müsse «die DNA» der Palästinenserinnen und Palästinenser ändern, damit sie zur Erkenntnis gelangten, dass sie in dieser Region zwar leben könnten, aber nur unter der Voraussetzung der Anerkennung der Tatsache, dass dies das Land der Juden sei.
Netanjahus extremistische Minister
Mit provokativen Äusserungen sparen die Minister Smotrich und Ben-Gvir auch nicht bei anderen Themen. Smotrich äusserte (ohne von Premier Netanjahu korrigiert zu werden), man könnte ohne moralische Bedenken die zwei Millionen Menschen im Gaza-Streifen verhungern lassen. Vielleicht gelänge es dann, die Geiseln aus der Gewalt von Hamas frei zu bekommen. Ben-Gvir forderte, jeden und jede, auch Frauen und Kinder, zu erschiessen, wenn sie sich der Grenze nähern würden. Und einer seiner Parteifreunde, Amichai Elijahu (Minister für Kulturerbe) sagte, eine Atombombe auf den Gaza-Streifen zu werfen «wäre eine Möglichkeit – wir sollten schauen, was ihnen (den Palästinensern) Angst macht und sie abschreckt. Zu drohen, sie zu töten, reicht nicht».
Fehlende Einigkeit in der EU
International lösen solche Aussagen, löst aber auch die offensive Siedlungspolitik im Westjordanland, Empörung aus. Doch die so genannte internationale Gemeinschaft ist weitgehend hilflos. Sie ist sich ja auch keineswegs einig, ob und auf welche Weise man die israelische Regierung zur Mässigung bewegen kann. Die Aussenminister der EU berieten am 29. August über eine vom Noch-Aussenpolitik-Beauftragten Josep Borrell vorgebrachte Forderung betreffend Sanktionen gegen die israelischen Minister Ben-Gvir und Smotrich – einigen konnten sie sich nicht, also verschwand der Antrag Borrells wieder in der Versenkung.
Die Chancen, dass der Antrag zu einer EU-Resolution führen würde, waren von Anfang an gering, denn in der Gemeinschaft der 27 gehen die Meinungen zu Nahost weit auseinander. Eine Minderheit (darunter Spanien, Irland und Slowenien) haben vor Wochen versucht, durch die Anerkennung eines Palästinenserstaats Druck auf Israel auszuüben – allerdings ohne erkennbares Resultat. Eine andere Staatengruppe mit Deutschland an vorderster Front glaubt weiterhin daran, dass so genannte intensive Diplomatie allein geeignet sei, Premier Netanjahu von der Notwendigkeit eines Kompromisses mit der verhassten Hamas-Terrorgruppe zu überzeugen. Weil das der einzige Weg sei, die Geiseln frei zu bekommen und die Zerstörung des Gaza-Streifens und der dort lebenden palästinensischen Gesellschaft zu beenden.
Sanktion gegen eine Siedlerorganisation in Amerika
Die «intensive Diplomatie» der deutschen Regierung macht sich allerdings selbst zahnlos durch die mantrahafte Wiederholung des Glaubenssatzes, Israels Sicherheit sei gleichbedeutend mit deutscher Staatsräson. Kein Mitglied der Regierung in Berlin wagt es, die Frage aufzuwerfen, ob Benjamin Netanjahu mit seinen Rechtsaussen-Ministern Ben-Gvir und Smotrich wirklich ein Garant für die Sicherheit Israels ist – oder ob diese Regierung nicht, im Gegenteil, zum Sicherheitsrisiko für ihr eigenes Land geworden ist.
So bleibt also der Einfluss Europas auf die Tragödie in Nahost bei Null. Und wie steht es mit jenem der USA? Kamala Harris, Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, betonte eben, sie würde nichts an der von Joe Biden vorgezeichneten Linie ändern, das heisst: wortreich auf die Notwendigkeit eines Kriegsendes im Gaza-Streifen hinweisen, der israelischen Regierung aber weiterhin die Waffen liefern, die die Fortsetzung des Kriegs ermöglichen. Immerhin aber verhängte jetzt das US-Aussenministerium Sanktionen gegen die rechtsgerichtete Siedlerorganisation Hashomer Yosh, wegen Gewalt gegen Palästinenser in den besetzten Gebieten. Hashomer Yosh soll es so verunmöglicht werden, in den USA Geld zu sammeln und das Vermögen der Aktivisten der Organisation soll eingefroren werden.
Rabulistik gegen den Uno-Teilungplan von 1947
Womit argumentieren eigentlich Leute wie Smotrich oder Ben Gvir, wenn es um das Westjordanland (und Ost-Jerusalem) geht? Sie vertreten die Meinung, der von der Uno-Generalversammlung am 29. November 1947 verabschiedete Teilungsplan für Palästina sei völkerrechtlich irrelevant, denn er habe ja keine klaren Grenzlinien zwischen dem für Juden und dem für Palästinenser vorgesehenen Gebiet definiert. Was das Territorium betrifft, sei es tatsächlich so gewesen: Aus der rund 30 Jahre zuvor publizierten Balfour-Deklaration könne man herauslesen, dass die britische Mandatsmacht damals habe aufzeigen wollen, dass die Mehrheitsbevölkerung Palästinas die Juden der ganzen Welt waren (auch wenn sie damals mehrheitlich nicht in Palästina lebten) und dass daher «eigentlich» dokumentiert worden sei, dass die ganze Region Palästina Territorium des israelischen Volks sei.
Aus diesen «Erkenntnissen» leiten die Rechtsaussen in Netanjahus Regierung, ohne dass sie Widerspruch oder Zurechtweisung durch den Premierminister fürchten müssten, das Recht ab, das ganze Westjordanland zu annektieren.