Der israelisch-palästinensische Konflikt ist in den Medien dauerpräsent und dennoch in deutschsprachigen Medien mangelhaft dargestellt. Mangelhaft, was Analyse, Hintergründe, Zusammenhänge betrifft. Auffallenderweise sehr viel mangelhafter als andere Brennpunkte des Weltgeschehens. Über die Gründe lässt sich nur mutmassen.
Wie die Palätinenser leben – ein rares Thema
Man liegt sicher nicht falsch mit der Annahme, dass Israel und seine Politik anderen Masstäben unterliegen. In den letzten Jahren ist die Debatte immer vergifteter geworden, weil der Vorwurf des Antisemitismus in Zusammenhang mit israelischer Politik stets präsent ist und nicht mehr differenziert wird, wo er berechtigt ist und wo nicht. In Deutschland ist daraus inzwischen ein Dauerthema geworden, in der Schweiz weniger, aber inhaltlich ähnlich geführt. Genannt sei das Stichwort BDS (Boykott, Divestment, Sanctions – die palästinensische Boykottbewegung).
Wird Israel zum Thema, dann im wesentlichen, wenn Palästinenser aus dem Gazastreifen Raketen schiessen. Dass zum Beispiel in den letzten Monaten fast Dutzende Palästinenser aus Westjordanien durch israelische Kugeln von Besatzungssoldaten ums Leben kamen – hierzulande keine Zeile darüber. Wie Palästinenser heute leben – in unterschiedlichen Rechtssystemen, je nachdem, ob in Israel selber, in Westjordanien oder in Jerusalem – diese Realität und ihre Auswirkungen kommen so gut wie nicht zur Sprache.
Dass es im Mai im Zuge neuer Gewalt im und aus dem Gazastreifen auch zu gewalttätigen Zusammenstössen in Israel selber kam, erfährt man zwar, aber begreift es nicht, weil die Gründe im Dunkeln bleiben, die berühmten Zusammenhänge also.
Palästinensische Geschichte seit Israles Staatsgründung
So bleibt für jene, die etwas lernen und begreifen wollen, nur noch die Lektüre von Büchern. Ausgezeichnete Dienste leistet hier das neue Buch von Muriel Asseburg über die palästinensische Seite des Konflikts. Die Autorin, Senior Fellow in der Foschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten in der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), ist eine der wenigen Expertinnen zu diesem Thema. Dass diese Expertise in den Medien weit weniger gefragt ist als jene anderer SWP-Mitarbeiter (etwa Guido Steinberg oder Markus Kaim, die über Terrorismus forschen), illustriert nur das vorher Beschriebene.
Muriel Asseburg konzentriert sich auf die Geschichte der Palästinenser seit der israelischen Staatsgründung 1948, die ihnen als Nakba, als Katastrophe in Erinnerung bleibt. Bis zu 750’000 von ihnen wurden damals vertrieben, rund drei Viertel von ihnen. 77 Prozent des Territoriums wurden nun zum israelischen Staatsgebiet, 500 ihrer Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Eine zweite grosse Flüchtlingswelle erfolgte dann mit dem Sechstagekrieg 1967. Eine Rückkehr blieb ihnen von jeher verwehrt, auch Entschädigung hat es nie gegeben, entsprechende Uno-Resolutionen wurden über die Jahrzehnte nie umgesetzt. Wenn es je eine Zweistaatenlösung gegeben hätte, dann noch auf etwa 22 Prozent des ursprünglichen Gebiets der Palästinenser.
Nicht gleichberechtigt in einem Rechtsstaat
Das Buch schildert umfassend die politische, soziale und ökonomische Entwicklung der Palästinenser seither, in Israel selber und in den seit 1967 besetzten und annektierten Gebieten wie Ostjerusalem. Das tut die Autorin in nüchtern-sachlicher, kaum je wertender Art. Gleichwohl liest sich das Buch sehr gut und flüssig. Und ist allen dringend empfohlen, die sich auch für die Rolle der Palästinenser in diesem Konflikt interessieren. Und das ist eben nicht immer nur die der Terroristen. Oder anders gesagt, die Gewalt hat Gründe und Ursachen. Man muss sie nicht gutheissen, aber zur Kenntnis nehmen. Ebenso gehört dazu, dass die Macht von Beginn an auf der israelischen Seite lag und längst eine Übermacht geworden ist. Auch weil die westliche Welt nie wirklich eingrenzend eingeschritten ist. Schon gar nicht die USA, auf die es einzig ankommt. Sie waren nie der «honest broker», als den sie sich gerne sahen. Auch das zeigt Muriel Asseburg exemplarisch.
Der Prozess fortlaufender Entrechtung setzte gleich nach der Staatsgründung ein. Bis 1966 lebten Israels Palästinenser unter Militärgesetzgebung, einer Art juristischer Besatzung im eigenen Land. Bis heute sind sie nur formal gleichberechtigt, aber einer Vielzahl gesetzlicher Diskriminierungen ausgesetzt. Sie sind keine gleichberechtigte Bürger eines Rechtstaates. Bildung, Infrastruktur, Gesundheitswesen, Niederlassungsfreiheit – überall sind sie benachteiligt. Das alles geht noch viel weiter und tiefer, als hier kursorisch aufgezählt. Und die Palästinenser Israels stehen noch weit weniger im internationalen Medieninteresse als die Bewohner der besetzten Gebiete.
Unfähigkeit, die eigenen Reihen zu schliessen
Auch deren prekäre Situation über die Jahrzehnte beschreibt Muriel Asseburg minutiös mit allen Veränderungen (und Verschlechterungen). In vielfältiger Form haben sich die Palästinenser dagegen aufgelehnt, oft auch gewalttätig, mörderisch, mit Methoden des Terrors. Das Buch aber macht hier immer wieder Ursachen und Wirkung deutlich. Detailliert diskutiert sie auch Fehler und Versagen auf der palästinensischen Seite und ihrer Führer, vorweg PLO-Chef Yassir Arafat. Immerwährende Korruption und das Unvermögen, auch nur minimale demokratische und rechtsstaatliche Standards wenigstens in der Verwaltung nach innen zu gewährleisten, gehören dazu. Was man bis heute auch in der Herrschaft von Mahmud Abbas erkennt. Ebenso die Unfähigkeit der verschiedenen politischen Lager, die Reihen zu schliessen. Also ein ewiger Kreislauf innerpalästinensischer Konflikte, die die eigene Sache nur noch mehr schwächen.
Aber stets bleibt deutlich, wo die Macht liegt: auf der israelischen Seite. Trotz der verschiedenen Abkommen zwischen Camp David bis Oslo und danach, wo den Palästinensern immer wieder (eine später noch zu verhandelnde) Eigenstaatlichkeit zugesagt wurde, es war nie die ernste Absicht einer israelischen Regierung, dies auch zuzulassen. Inzwischen diktieren längst die nationalreligiösen Siedler die politische Agenda Jerusalems. Und es macht sich die Einsicht breit – auch auf palästinensischer Seite – dass es eine Zweistaatenlösung kaum mehr geben wird.
Modelle einer «Einstaatenlösung»
Zum Schluss des Buchs diskutiert Muriel Asseburg die verschiedenen denkbaren Modelle einer «Einstaatenlösung». Palästinensern, die sich mit diesem Gedanken befassen, ginge es vor allem um gleiche Rechte für alle in einem Staat. Das ist noch nicht einmal in Israel verwirklicht – also fällt es schwer zu glauben, dass sich hier in näherer Zukunft so ein Modell realisieren liess.
Und dennoch: Die Palästinenser machen heute zwischen Jordan und Mittelmeer bereits die Hälfte aus. Es ist absehbar, dass sie zur Mehrheit werden. Israel aber verweigert bis heute eine Antwort auf die Frage, wie ein jüdisch-demokratischer Staat mit einer palästinensischen Mehrheit in Einklang zu bringen wären.
Muriel Asseburg: Palästina und die Palästinenser. Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart. C. Beck Verlag, 2021, 365 Seiten, Fr. 26.90