Die ukrainischen Streitkräfte haben an mehreren Frontabschnitten ihre Angriffe verstärkt. Dies könnte ein Zeichen dafür sein, dass die seit langem erwartete ukrainische Grossoffensive bevorsteht. Die Ukraine bezeichnet russische Berichte, wonach Russland einen Vorstoss der Ukraine zurückgeschlagen habe, indirekt als «Fake News». Bei Bachmut haben die Ukrainer Terrain zurückerobert.
Das russische Verteidigungsministerium erklärte, die russischen Streitkräfte hätten eine ukrainische Grossoffensive vereitelt. Dabei seien 250 ukrainische Soldaten getötet worden. An der «gross angelegten Offensive» in der Region Donezk seien sechs Panzer- und zwei Panzerbataillone beteiligt gewesen. Ein russischer Militärsprecher sagte, die Ukrainer hätten versucht, an einem sehr verwundbaren Teil der Frontlinie vorzustossen. Doch sie hätten «keinen Erfolg gehabt».
Das russische Ministerium veröffentlicht ein Video, das ukrainische Militärfahrzeuge zeigen soll, die unter schweren Beschuss geraten.
«Fake News»
Das ukrainische Militär erklärte, es wisse nichts von einer ukrainischen Grossoffensive bei Donezk. Gegenüber Reuters sagte ein ukrainischer Militärsprecher: «Wir kommentieren keine Fake News.»
Charles Stratford, der meist gut informierte Korrespondent von Al Jazeera in Kiew, berichtet, es sei «unmöglich», die Behauptung zu verifizieren, wonach russische Streitkräfte die Ukrainer zurückgeschlagen hätten.
Amerikanische Militäranalysten erklären gemäss US-Medien, dass der ukrainische Vorstoss möglicherweise ein Testlauf war, um die russische Stärke zu testen. Solche Testläufe seien «traditionelle Praxis und Taktik im Krieg».
Anzeichen für einen Beginn der Offensive
Der Beginn der ukrainischen Gegenoffensive ist immer wieder verzögert worden, weil die Ukraine auf zusätzliche westliche Waffen wartete. Zudem war die Ausbildung zusätzlicher Truppeneinheiten noch nicht abgeschlossen. Ob die Offensive jetzt begonnen hat, ist unklar. Das ukrainische Verteidigungsministerium hatte mehrmals erklärt, man werde den Beginn der Gegenoffensive nicht bekanntgeben.
Hanna Malyar, die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin, sagte am Montag, die ukrainischen Streitkräfte gingen in einigen Gebieten «zu offensiven Aktionen über».
Auch amerikanische und russische Beamte berichten, dass die ukrainischen Streitkräfte ihre Artillerie- und Bodenangriffe an mehreren Frontabschnitten verstärkt hätten. Dies meldet am Montag die New York Times. Die Zeitung zitiert einen amerikanischen Beamten, der anonym bleiben will. Danach sei die Zunahme der Angriffe «ein mögliches Anzeichen dafür, dass Kiews lange geplante Gegenoffensive begonnen hat».
Laut Beobachtern könnte die Offensive mit Ablenkungs- und Täuschungsmanövern beginnen.
Es steht viel auf dem Spiel
Da die Russen viel Zeit hatten, sich auf eine ukrainische Offensive vorzubereiten, erwarten Militäranalysten keinen raschen Erfolg eines ukrainischen Vorstosses. Ziel der Ukraine ist es, die russischen Streitkräfte aus dem ganzen ukrainischen Staatsgebiet zu vertreiben – also auch aus der seit 2014 besetzten Halbinsel Krim und aus dem Donbass.
Es steht viel auf dem Spiel, denn sollten die Ukrainer mit ihrer Gegenoffensive scheitern, könnte die westliche Unterstützung für die Ukraine erlahmen. Kiew braucht dringend einen Erfolg auf dem Schlachtfeld.
Die Russen «laufen leise davon»
Rund um die ostukrainische Stadt Bachmut, die im April in die Hände der Russen fiel, haben die Ukrainer nach eigenen Angaben einige russische Stellungen zerstört. Oleksander Syrskyj, der Kommandant der ukrainischen Bodentruppen, erklärte, die Ukrainer würden bei Bachmut «vorrücken».
Nach Angaben von Jewgeni Prigoschin, dem Chef der Wagner-Gruppe, haben die ukrainischen Streitkräfte einen Teil der Siedlung Berkhiwka drei Kilometer nordwestlich von Bachmut zurückerobert.
«Jetzt ist ein Teil der Siedlung Berkhiwka bereits verloren, die (russischen) Truppen laufen leise davon. Eine Schande!», sagte Prigoschin in einer Audiobotschaft, die von seinem Pressedienst veröffentlicht wurde.
Offensive bei Welyka Nowosilka
Prigoschin forderte Verteidigungsminister Sergej Schoigu und den Chef des Generalstabs, Waleri Gerassimow, auf, an die Front zu kommen, um die Truppen zu sammeln. «Kommt schon, ihr könnt es schaffen!», sagte er. «Und wenn ihr es nicht schafft, werdet ihr als Helden sterben.»
Prigoschins Privatarmee hatte Bachmut im vergangenen Monat nach der längsten Schlacht des Krieges eingenommen und die dortigen Stellungen den regulären russischen Truppen übergeben.
Russische Blogger, die dem russischen Militär nahestehen, erklärten, die Ukraine sei in einigen Gebieten vorgerückt und habe am frühen Montagmorgen in der Nähe der Stadt Welyka Nowosilka, westlich von Donezk einen grösseren Angriff gestartet.
Baut die Ukraine Sabotage-Zellen in Russland auf?
CNN meldet am Montag, dass die Ukraine in Russland ein Netzwerk von Agenten und Sympathisanten aufgebaut habe, die Sabotage-Akte gegen russische Ziele verübten. Die Ukraine habe begonnen, diesen Gruppen Drohnen für ihre Angriffe zur Verfügung zu stellen. CNN bezieht sich auf «mehrere Personen, die mit den US-Geheimdiensten in dieser Angelegenheit vertraut sind».
Danach sei der Drohnenangriff auf den Kreml von Anfang Mai von Russland aus (und nicht von der Ukraine aus) gestartet worden. Es sei unklar, so CNN, ob auch andere Drohnenangriffe, die in den letzten Tagen durchgeführt wurden – darunter ein Angriff auf ein Wohnviertel bei Moskau und weitere auf eine Ölraffiniere in Südrussland – ebenfalls auf das Konto Putin-feindlicher Agenten gehen.
«Für den Schmuggel prädestiniert»
Ungewiss ist, wie Drohnen hinter die feindlichen Linien geschafft werden können. Gemäss CNN sind «gut eingeübte Schmuggelrouten» eingerichtet worden, über die Drohnen und Teile von Drohnen nach Russland gelangen, wo sie zusammengesetzt werden. Ein europäischer Geheimdienstmitarbeiter wies laut CNN darauf hin, dass die russisch-ukrainische Grenze weitläufig und sehr schwer zu kontrollieren ist, was sie «für den Schmuggel geradezu prädestiniert».
Seit Monaten kommt es in Russland immer wieder zu mysteriösen Bränden und Explosionen, die Öl- und Treibstoffdepots, Eisenbahnen, Militärbüros, Lagerhäuser und Pipelines betreffen.
Im russischen Belgorod nahe der ukrainischen Grenze sollen nach Angaben Putin-feindlicher russischer Kämpfer einige russische Soldaten gefangen genommen worden sein. In der Region ist die «Legion der Freiheit Russlands» (FRL) und das «Russische Freiwilligenkorps» (RDK) aktiv. Beide Gruppen arbeiten auf den Sturz von Präsident Putin hin und lehnen den Krieg in der Ukraine ab. Sie erklärten, sie würden gefangene Russen jetzt an die Ukraine ausliefern.
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