Sie sei in den vergangenen Jahren richtiggehend explodiert, die Abklärungsmaschinerie für Schulkinder. Darum durchlebten wir eine Zeit der „Überdiagnosen“. Doch ein Mehr sei eben nicht zwingend besser. Im Gegenteil! So tönt das schonungslose Fazit von Thomas Baumann, Kinderarzt und Fachbuchautor, bei seinem Referat in St. Gallen zum Sinn der Diagnosen beim Kind. Eingeladen hatten die Ostschweizer Kinderärzte. [1]
Mehr „kranke“ als gesunde Kinder
Mehr als die Hälfte der Schweizer Schulkinder wird irgendwie therapiert – das Ziel: Schulprobleme lösen und den Unterricht bestehen. Sie erhalten sonderpädagogische und/oder unterrichtsergänzende Massnahmen zugeteilt, seien dies psychomotorische, logopädische oder heilpädagogische Hilfen. Dazu kommen medizinisch verordnete Therapien wie Psycho- und Ergotherapie. [2] Das bereitet dem Pädiater Thomas Baumann Sorge.
Der Experte kennt klare Worte: Unsere Gesellschaft verleite dazu und verlange es: Kinder müssten schon früh ganz bestimmten Vorstellungen entsprechen. Zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer, viele Eltern und auch Ärzte hätten immer konzisere Vorstellungen davon, wie sich ein Kind in einem bestimmten Alter verhalten müsse. „Kinder, die nicht in dieses Schema passen, werden abgeklärt und therapiert.“ Abweichungen vom Durchschnitt würden vielfach als Entwicklungsstörung betrachtet. So sei ein eigentlicher „Therapiewahn“ entstanden – und ein lukrativer Therapiemarkt, analysiert Baumann. [3] Die Folge: In unserem Schulsystem hätten wir mittlerweile mehr „kranke“ als gesunde Kinder.
Grosse Spannweite der Variabilität
Was aber führt zu dieser ungesunden Zunahme? Der Grund könne nicht primär in den Kindern liegen; verändert habe sich die Vorstellung von Normalität. Die Annahme, was normal sei und was nicht, werde immer enger. Die Streubreite nehme ab. Für Baumann ist klar: „Es werden einfach mehr Variationen der Norm als pathologisch erklärt.“
Ausser Acht gelassen werde dabei oft die altersbedingte und grosse Spannweite der sogenannten Variabilität, der kindlichen Unterschiedlichkeit im Entwicklungstempo. Als Konsequenz erfolgten Interventionen und Therapien darum nicht selten im gesunden Bereich. Dies beispielsweise bei Kindern, die in ihrer Entwicklung scheinbar noch im Rückstand lägen, doch diesen Schritt auch ohne Massnahmen vollzögen. Einfach etwas später, vielleicht etwas anders.
Wenn sich der Toleranzwert verschiebt
Therapien implizieren eben Krankheit. Oft hinterlassen die therapeutischen Settings beim Kind – und auch bei den Eltern – ein schales Gefühl: „Was ist mit mir los, dass sich um mich alle Sorgen machen? Was stimmt bei mir denn nicht?“, fragen sich die betroffenen jungen Menschen. Sie empfinden die Therapie als negative Rückmeldung, was im Sinne des Pygmalioneffekts wie ein schulisches Nocebo wirken kann. „Interventionen stigmatisieren“, so Baumann wörtlich. Nicht selten rutschten Kinder auch in den „kranken Bereich“, weil sich der Toleranzwert, der sogenannte Cut-off verschiebe.
Oft sind auch die Testverfahren fragwürdig: Sie erstellen eine Diagnose, ohne den problematischen Bereich überhaupt zu messen oder den Gesamtkontext genügend auszuloten. So wird beispielsweise die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS zum Teil mit subjektiv ausgefüllten Fragebögen erfasst; es gibt keinen Biomarker, der als Indikator herangezogen werden könnte. Über „Normalität“ oder Hyperaktivität entscheidet schlicht der Beobachter, sagte Baumann. Praxispädiater wissen: Norm von Pathologie zu unterscheiden ist und bleibt eine Kunst. Das Messen wie das Sammeln von Informationen bedürfen zwingend einer Gesamtschau.
Genderproblematik bei den Therapien
Noch eine Zahl lässt aufhorchen: Auch den kantonalen Schulpsychologischen Diensten (SPD) werden immer mehr Schulkinder zugewiesen. Mindestens zwei Drittel davon sind Knaben. Das Beispiel stammt aus dem Kanton Zürich. In anderen Kantonen zeigt sich ein ähnliches Bild. Es sei eine Gratwanderung, sagt Oskar Jenny, Abteilungsleiter der Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich. Und er fügt bei: „Wenn das Angebot da ist, wird es auch genutzt. Es besteht die Gefahr, dass mehr Therapien verschrieben werden, als sie Kinder wirklich nötig haben.“ [4]
Kinder- und Jugendpsychiatrien gefordert
In einem zweiten Vortrag skizzierte Susanne Walitza, Ärztliche Direktorin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Zürich (KJPD), die Zunahme akuter Probleme bei jungen Menschen. Ob Essstörungen oder Autismus, ob Persönlichkeitsstörungen oder das Zappelphilipp-Syndrom ADHS – psychische Leiden sollen möglichst frühzeitig erkannt werden. „Je früher wir behandeln, umso besser ist der Verlauf und die Prognose für die Betroffenen“, betonte Walitza und fügte bei: „Eine frühe Bindungsstörung kann nicht irgendwann einfach wegtherapiert werden.“
Vor allem die zweite Welle der Corona-Pandemie hätte die Lebensqualität und damit die psychische Situation von Kindern und Jugendlichen verschlechtert; das habe die Psychiatrie mit zusätzlichen Notfällen konfrontiert. „Im April 2021 hatten wir mit 160 Konsultationen dreimal so viele junge Menschen bei uns wie zwei Jahre zuvor.“ Hinter jeder Zahl stünde ein junger Mensch mit seinen Sorgen und Nöten, oftmals geplagt von suizidalen Gedanken, gab Walitza zu bedenken.
Überdiagnosen und Unterdiagnosen verursachen Kosten
Die Sorgen der Jugendlichen brauchen ein diametrales Gegengewicht. Beide Referate betonten, wie wichtig dabei die Schule sei und wie bedeutsam die positive Beziehung – gerade für Kinder aus sozial benachteiligten Familien seien sie essentiell. Baumann verwies auf die Erkenntnisse der grossen Hattie-Studie, Walitza auf das wertschätzende Klima im Klassenzimmer mit Struktur und Klarheit.
Der Pädiater Thomas Baumann nannte mehrfach die Überdiagnosen. Sie seien gesellschaftlich akzeptiert, wissenschaftlich aber kaum erforscht. Diagnosen verschafften vordergründige Sicherheit, auch wenn sie an der Realität vorbeizielten. Kaum jemanden interessiere es aber, welch enorme Kosten dabei entstünden und wie viel daran verdient werde. Auf ein Wegschauen und damit auf eine Unterdiagnose machte Susanne Walitza aufmerksam: Die Lese- und Rechtschreibeschwäche vieler Kinder werde viel zu wenig erkannt und schon gar nicht als wichtiges Risiko für die spätere schulische Entwicklung gesehen. Auch hier wäre eine verantwortungsvolle Bildungspolitik gefordert.
[1] Referat im Rahmen der Vortragsreihe „Pädiatrie, Schule & Gesellschaft“ vom 15. September 2021 an der Pädagogischen Fachhochschule St. Gallen: „Erlöst die Schüler von unnötigen Diagnosen – die Bedeutung von Diagnosen für die Entwicklung des Kindes“.
[2] Romedius Alber: Der Pädiatrie laufen die Schulkinder und Jugendlichen davon – holt sie zurück! In: PAEDIATRICA Vol. 30-5/2019, S. 18.
[3] Thomas Baumann, Romedius Alber (2011): Schulschwierigkeiten: Störungsgerechte Abklärung in der pädiatrischen Praxis. Bern: Verlag Hans Huber.
[4] Simone Rau: In die Schule, dann zur Therapie. In: Tagesanzeiger, 14.10.2013, S. 1, 11.