Griechenland befindet sich im Vorwahlkampf. Die Regierung gibt sich als Garant für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik. Wenn man nicht nur die nackten Zahlen betrachtet, sieht die Sache aber anders aus. Die Regierungspartei könnte bei den Wahlen, die voraussichtlich im April stattfinden, die absolute Mehrheit verlieren.
Vor diesem Hintergrund sind Verlautbarungen und Manöver griechischer Politiker zu sehen. Seit 2018 finanziert sich Griechenland wieder an den Finanzmärkten. Verantwortlich für die Wirtschaftspolitik ist seit 2019 die neudemokratische Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis. Was noch an die Finanzkrise erinnert, ist die Tatsache, dass die Kreditwürdigkeit der griechischen Staatsanleihen immer noch im Ramschbereich liegt. Die Regierung hofft, in diesem Jahr als letztes Euroland von den Ratingagenturen einen Investment-Grade zu erhalten.
Wirtschaftszahlen besser als erwartet, aber …
Auch wenn das nicht passiert, droht vorerst kein neuer Staatsbankrott und keine neue Schuldenkrise. 75% der griechischen Staatsanleihen werden zur Zeit von öffentlichen Gläubigern gehalten. Das ist im Wesentlichen der Euro-Stabilitätsfonds ESM. Die teuren Darlehen, die der Internationale Währungsfonds in der Krise gewährt hatte, wurden in den letzten Jahren zurückgezahlt und an den Märkten günstig refinanziert. Die Laufzeit dieser Darlehen ist lang und der durchschnittliche Zinssatz nur wenig über 1%, das heisst: Der Bedarf an neuen Anleihen ist in den nächsten Jahren gering. Zusätzlich hat Griechenland gegenwärtig 31 Milliarden Euro auf der hohen Kante. Das Land könnte voraussichtlich drei Jahre wirtschaften ohne neue Darlehen aufzunehmen – welch ein Unterschied zu 2015, wo das Geld nur für drei Tage gereicht hat.
Trotzdem spürt Finanzminister Christos Staikouras die steigenden Zinsen. Für Dreimonats-Schuldverschreibungen musste er jüngst 2,18% hinblättern. Für die gleichen Papiere gab es vor einem Jahr noch einen Negativzins von -0,4 Prozent. Das heisst: Vor einem Jahr zahlten die Investoren dem griechischen Staat noch 0,4%, damit er drei Monate auf ihr Geld aufpasst, heute kassieren sie dafür 2,18%. Der Zinssatz für längerfristige Staatsanleihen beträgt etwas mehr als 4%.
Ein Investment-Grade würde der Regierung nicht nur ein Wahlkampfargument liefern, sie würde auch die Nachfrage nach griechischen Schuldverschreibungen erhöhen, was die Zinsen drückt. Die Ratingagenturen werden aber kaum vor den Wahlen einen Entscheid fällen. Es ist noch zu gut in Erinnerung, dass Griechenland in den Nullerjahren praktisch bis zum Bankrott einen Investment-Grade hatte und dann die Papiere abrupt in den Ramschbereich zurückgestuft wurden, was die Refinanzierung zusätzlich erschwerte.
Die Wirtschaftszahlen sehen also besser aus als erwartet. Das illustriert auch die Tatsache, dass die Wirtschaft im letzten Jahr um mehr als 5% wuchs. Die Opposition kritisierte aber zu Recht diese Darstellung. Der frühere Finanzminister Euklid Tsakalotos bemerkte, dass die guten Wachstumszahlen auch vor dem Hintergrund zu sehen seien, dass im Vorjahr die Geschäfte sieben Monate geschlossen waren und es auch über die gleiche Zeit eine Ausgangssperre gab. In der Tat ist es ein Leichtes, gute Wachstumszahlen auszuweisen, wenn der Konsum im Vorjahr in einigen Teilen quasi verboten war! Auch die Regierung erwartet im laufenden Jahr ein geringeres Wachstum, aber eine Rezession droht – anders als in vielen anderen Euroländern – nicht. Positiv ist weiter die Tatsache, dass der Staatshaushalt einigermassen im Gleichgewicht ist. Das hat, gepaart mit dem Wachstum, dazu geführt, dass die gesamten Staatsschulden im Vergleich zum Bruttoinlandprodukt von 206% im Jahr 2020 auf aktuell 168% sanken.
… die Bevölkerung schrumpft und verarmt
Die Stimmung in der Bevölkerung und deren Wahrnehmung ist aber eine andere Sache. Die dramatisch hohe Inflation, die sich praktisch bei 10% befindet und die Energiekrise, die sich in stark gestiegenen Strom- und Benzinpreisen niederschlägt, führt in breiten Kreisen zu Verarmung und Unsicherheit. Mit den Worten des Ökonomen gesprochen: Real, das heisst um die hohe Inflation korrigiert, ist das Wachstum immer noch negativ, das heisst, die Wirtschaft schrumpft real immer noch. Das ist dramatisch für die Bevölkerung, aber der Finanzminister kann sich die Hände reiben: Inflation führt dazu, dass die Staatsschulden langsam wie von Zauberhand verschwinden.
Auch das starke Schrumpfen der Bevölkerung ist ein alarmierender Indikator. Die Geburtenrate ist mit 1,37 Geburten pro Frau in Griechenland schon seit Jahrzehnten gering und lässt eine natürliche Reproduktion der Bevölkerung nicht zu. In den Neunzigerjahren kompensierte dies eine hohe Zuwanderung aus Albanien. Mittlerweise gibt es in Griechenland eingebürgerte Albaner, die in ein anderes EU-Land weitergezogen sind und Neuzuwanderer aus Albanien gibt es kaum mehr. Auch die Auswanderungswelle von gut ausgebildeten Griechinnen und Griechen der Mittelklasse, denen die Krise die Lebensgrundlage entzogen hat, ebbt nicht ab. Die Bevölkerung mit legalem Aufenthaltsstatus in Griechenland schrumpfte von 2011 bis 2021 von 9’904’286 Personen auf 9’716’889 – eine Schrumpfung von praktisch 200’000 Menschen. Die negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Rentensysteme und den Staatshaushalt sind augenfällig. Touristische Betriebe fanden schon letzten Sommer für die Saison kaum mehr genügend Personal. Mir ist ein Betrieb bekannt, der aus diesem Grund in der Hochsaison schliessen musste.
Regierung regiert mit Unterdrückung und Schlaumeiereien
In der Bevölkerung gibt es also eine negative Strömung, die sich vor allem in Blogs, Foren und Kommentaren artikuliert – die grösseren Medien sind durch Subventionen und Einschüchterungen stramm auf Regierungskurs gebracht worden. Die Regierung weiss das seit geraumer Zeit und realisiert, dass die Unzufriedenheit in der Bevölkerung angesichts drohender Verarmung wächst. Sie reagiert mit Unterdrückung und versucht, sich mit Tricks in die nächste Legislaturperiode zu retten. Immer wenn in Athen die politische Rechte regiert, wird es autoritär und übergriffig. Nach den bitteren Erfahrungen mit der Regierung Karamanlis der Jahre 2004 bis 2009 dachte ich, dass es mit Mitsotakis – ebenfalls Nachfahre einer berühmt-berüchtigten Politikerfamilie – in Sachen autoritäres Regieren nicht schlimmer kommen würde. Nachdem sie während der Pandemie mit extrem einschränkenden Massnahmen regiert hatte, die nicht den gewünschten Erfolg erzielten – die Ausgangssperre war mit sieben Monaten rekordverdächtig und der negative Einfluss auf die Wirtschaft gewaltig, aber die Todeszahlen ebenso – kann die Regierung nun Abhörvorwürfe (auch gegen eigene Minister) nicht definitiv ausräumen, es gibt Abgeordnete, denen dubioses Finanzgebaren vorgeworfen wird und die starke Beschneidung der Pressefreiheit ist mittlerweile sogar international ein Thema.
Immerhin ist es dem ungeimpften Gesundheitspersonal gelungen, per Gerichtsentscheid die Rückkehr an den Arbeitsplatz zu erzwingen. Die Regierung hatte diese Menschen schlechter behandelt als Verbrecher, denn in Griechenland erhalten Inhaftierte noch die Hälfte des Lohnes. Das ungeimpfte Gesundheitspersonal war hingegen im September 2021 ohne Lohn freigestellt worden. Der rechtsextreme Gesundheitsminister Thanos Plevris, der Ungeimpften mit einem unflätigen Nazi-Ausdruck den Tod gewünscht hatte, kommentierte seine Niederlage vor Gericht als «eine gefährliche Entscheidung für die öffentliche Gesundheit».
Eine weitere Schlaumeierei der Regierung ist das eiligst in die Wege geleitete Verbot der vom Neonazi Ilias Kassidiaris neu gegründeten Partei «Griechen für die Heimat» (Ellines Gia Tin Patrida – EGTP). Kassidiaris, ein Holocaustleugner, der vor laufender Kamera eine kommunistische Parlamentarierin geohrfeigt hatte, sass 2013 bis 2019 für die nationalsozialistische «Goldene Morgenröte» (Chryssi Avgi – CA) im Parlament. Nachdem Parteiangehörige einige brutale Überfälle auf politische Gegner und Ausländer verübt hatten – unter anderem wurde ein linker Musiker ermordet –, wurde die Parteiführung verhaftet, verurteilt und ins Gefängnis gebracht. Kassidiaris durfte nun ungehindert im Gefängnis eine neue politische Bewegung aufbauen und in den Medien auftreten. Ein Verbot dieser neuerlichen braunen Variante wäre also per se eine gute Sache. In den Meinungsumfragen liegt die Partei von Kassidiaris nur knapp unterhalb der Dreiprozenthürde.
Gelänge es, dieser Partei den Einzug ins Parlament zu verwehren oder bliebe sie unterhalb der Dreiprozenthürde, dann wäre das für die regierenden Neudemokraten (ND) vorteilhaft, denn je weniger Parteien im Parlament, desto mehr Bonussitze erhält die stärkste Fraktion. Die Gründe für das eiligst durchgepaukte Verbot der neuen Nazipartei sind also wohl gar nicht so uneigennützig.
Wahlen könnten zu Patt führen
In den Umfragen liegt die konservative Regierungspartei ND vor der radikalen Linken SYRIZA des Ex-Ministerpräsidenten Alexis Tsipras. Doch Mitsotakis dürfte Stand heute die absolute Mehrheit verlieren. Die Wahlen könnten zu einem politischen Patt führen, was zu einer Koalitionsregierung oder zu einem neuen Urnengang im Sommer führen könnte.