Die bisher bekannt gewordenen grossen Linien der Übereinkunft sehen vor: Ein Waffenstillstand soll Montag, 12. September bei Sonnenuntergang in Syrien beginnen. Er würde mit dem Beginn des grössten muslimischen Festtags, Id al-Adha, zusammenfallen und soll acht Tage lang dauern. Falls der Waffenstillstand hält, kommt es darauf zu einer Zusammenarbeit der amerikanischen und der russischen Luftwaffe gegen die beiden radikalen Jihadistengruppierungen Islamischer Staat und Eroberungsfront. Die zweite ist die Gruppe, die bis vor kurzem Nusra-Front hiess.
Auf bestimmte Gebiete beschränkt
Die Zusammenarbeit wird innerhalb bestimmter Gebiete stattfinden. Wie genau diese Gebiete abgegrenzt sind, wissen wir nicht; wahrscheinlich gibt es bereits Dokumente, die sie definieren, doch sie sind nicht veröffentlicht. Im wesentlichen dürfte es sich um die Gebiete handeln, die vom IS und der Eroberungsfront beherrscht werden. In den anderen Kampfgebieten, in denen andere, sogenannt gemässigte Widerstandsgruppen agieren, darf nach dem Vertrag die syrische Luftwaffe weiter eingreifen, jedoch nicht in den für die gemeinsame Aktion der Amerikaner und Russen bestimmten Zonen.
Sergej Lawrow sagte in Genf, die Syrer stimmten diesen Abmachungen zu. Die Zustimmung der Amerikaner zur Erlaubnis für die syrische Luftwaffe, gegen die „gemässigte Opposition“ aktiv zu bleiben, war wahrscheinlich das Resultat einer Konzession der letzten Stunde, welche die Amerikaner eingingen. John Kerry sagte, Amerika sei „eine Extra-Meile gegangen“. Zuvor hatten die Amerikaner gefordert, Asads Luftwaffe habe ihre Aktivitäten überall zu beenden.
Schwachpunkte
Diese Regelung, so deuteten die beiden Aussenminister in Genf an, gebe Anlass zur Hoffnung, dass es schrittweise zu Verhandlungen zwischen der „legitimen Opposition“, wie Kerrry sie nannte, und dem Asad-Regime über einen politischen Kompromiss in Syrien komme.
Der Lösungsansatz hat viele Schwachpunkte, an denen er scheitern könnte. Zuerst: Kommt der Waffenstillstand am Montagabend wirklich zustande, und kommt es mit ihm wirklich zu der versprochenen Öffnung der Belagerungen für Hilfsgüter? Gegenwärtig wird heftiger denn je um die belagerte Hälfte von Aleppo gekämpft, weil beide, das Regime und die Opposition, ihre dortigen Positionen bis Montagabend noch zu verbessern versuchen. Die Truppen Asads stehen dabei in der Offensive, der Widerstand – bestehend aus der Eroberungsfront und ihren Verbündeten – im Abwehrkampf.
Sodann: Wird der Waffenstillstand acht Tage lang halten? Im vergangenen Februar gab es bereits mehrere Waffenstillstände, die jedoch unvollständig blieben und vorzeitig zusammenbrachen. Der IS und die Eroberungsfront haben beide ein Interesse daran, den Waffenstillstand zu unterlaufen, denn wenn er hält, werden sie zu Zielen der russisch-amerikanischen Koordination, die sich auf sie konzentrieren soll.
Kalküle der Extremisten
Wenn der Waffenstillstand zusammenbricht, bleibt die Lage günstiger für die beiden Extremistengruppen, weil sie dann damit rechnen können, dass die beiden Grossmächte weiterhin getrennt agieren. Zudem würden die Russen auf einer viel breiteren Front kämpfen, nämlich sowohl gegen sie als auch gegen ihre Verbündeten unter den Kampfgruppen und darüber hinaus auch noch gegen die von den Amerikanern als die „legitime Opposition“ angesprochenen Gruppen. Hier steht die Erobrungsfront in einer zentralen Position. Sie hat gegenwärtig zahlreiche Verbündete unter den Kämpfern der sogenannt gemässigten Gruppen.
In der von der Eroberungsfront beherrschten Provinz Idlib und teilweise auch in Aleppo kämpfen zurzeit die Verbündeten der sogenannten Gemässigten immer gemeinsam mit der Eroberungsfront, wenn diese vom Asad-Regime angegriffen wird und auch wenn diese offensiv gegen die syrische Armee vorgeht. Kerry sprach dies in Genf an. Er sagte: „Wenn die Gruppen der legitimen Opposition ihre Legitimität bewahren wollen, müssen sie sich in jeder Hinsicht distanzieren von Nusra und Daesh.“ (Daesh ist die arabische Abkürzung für den IS, mit Nusra ist die neu so benannte Eroberungsfront angesprochen.)
Am Ende Vorteile für Asad?
„Daesh“, der IS, hat keine Verbündeten. Die Front aber wird ihrerseits alles tun, was sie kann, um die von den USA geforderte Distanznahme ihrer bisherigen Verbündeten zu vereiteln. Möglicherweise könnte das soweit gehen, dass die Eroberungsfront diese angreifen wird, um zu versuchen, sie sich zu unterwerfen.
Da es um Bombardierungen geht, werden die verbündeten Gruppen, darunter das von Saudi Arabien unterstützte „Heer der Eroberung“, vor der Wahl stehen, entweder weiterhin mit der Eroberungsfront zusammenzuarbeiten und dadurch Ziel der vereinigten Bombardierungen von Amerikanern und Russen zu werden, oder sich in eigene Gebiete zurückzuziehen und von dort aus unabhängig von der Eroberungsfront zu agieren. Denn eine territoriale Trennung wird notwendig sein, wenn sie es vermeiden wollen, sich zusammen mit Nusra den Bombenangriffen auszusetzen.
Durch eine solche Trennung würde natürlich die Front gegen Asad geschwächt. Seine Feinde arbeiteten nicht mehr zusammen, und ein Teil von ihnen würde nun gemeinsam von Amerikanern und Russen bekämpft. Dies wäre ein Vorteil für Asad. Die Eroberungsfront wird daher tun, was sie kann, um den Plan zum Scheitern zu bringen.
Welche Ziele verfolgt Putin?
Ein weiteres Fragezeichen, das über den in Genf neu erstandenen Hoffnungen schwebt, sind die Absichten der Russen. Es könnte sein, dass sie nun wirklich gedenken, mit den Amerikanern auf eine Kompromisslösung hinzuarbeiten. Es ist aber auch denkbar – und angesichts des bisherigen russischen Verhaltens in Syrien und in der Ukraine nicht unwahrscheinlich –, dass Putin nur zu verhandeln versucht, um die Amerikaner mit diplomatischen Hoffnungen zu vertrösten und zu beschäftigen, während er seine militärischen Ziele weiter verfolgt.
Wenn dies die Absicht der Russen sein sollte, brauchen sie nur dem Asad Regime zu bedeuten: Wir reden zwar mit den Amerikanern, aber eure Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass der Waffenstillstand nicht solange dauert, dass er zu Friedensverhandlungen führt. Und in der durch unsere Verhandlungen gewonnen Zeit könnt ihr militärisch vorankommen.