Erdoğans Wählerinnen und Wähler gingen schon früh auf die Strasse und feierten den Sieg des Präsidenten. Doch vermutlich haben weder er noch Oppositionsführer Kılıçdaroğlu das erforderliche absolute Mehr erreicht. Deshalb kommt es am Pfingstsonntag wahrscheinlich zu einer Stichwahl. Noch wurde das offfizielle Schlussergebnis nicht veröffentlicht. Nach bisherigen Angaben kam Erdoğan auf 49,51 Prozent und Kılıçdaroğlu auf 44,88 Prozent der Stimmen. Beide geben sich zuversichtlich, die Stichwahl zu gewinnen.
64 Millionen Türkinnen und Türken waren aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Die Wahlbeteiligung war laut der Wahlbehörde «extrem hoch». Genaue Zahlen fehlen noch. Herausgefordert wird Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der seit über zwanzig Jahren an der Macht ist, von Kemal Kılıçdaroğlu, der der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP (Republikanische Volkspartei) vorsteht.
In Kreisen der feiernden AK-Partei machte sich am späten Sonntagabend Enttäuschung breit, als bekannt wurde, dass es Präsident Erdoğan möglicherweise nicht geschafft hatte, bereits im ersten Wahlgang zu siegen.
Am frühen Montagnachmittag bestätigte der Wahlleitzer, dass es an Pfingsten zu einer Stichwahl kommen wird. Noch sind etwa 30'000 Stimmen auszuzählen.
Entgegen fast aller Prognosen
Die bisher offiziell veröffentlichten Zahlen, die Erdoğan über 49 Prozent der Stimmen geben, erstaunen, weil in fast allen Meinungsumfragen der Oppositionskandidat an der Spitze gelegen hatte.
Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu warf am späten Abend dem Erdoğan-Lager vor, immer wieder Einspruch gegen die Ergebnisse in vielen Wahllokalen zu erheben, um das System zu blockieren. Dies geschehe vor allem in Gebieten, in denen die Opposition stark sei. «Es gibt Wahlurnen, die sechsmal, elfmal beanstandet wurden», sagte er und fügte hinzu: «Sie blockieren den Willen der Türkei.» Er betonte: «Sie können nicht verhindern, welche Wahrheit in den Wahlurnen liegt. Wir werden nicht zulassen, dass wir vor vollendete Tatsachen gestellt werden.»
Der oppositionelle Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, erwartete, dass Kemal Kılıçdaroğlu vor Präsident Recep Tayyip Erdoğan ins Ziel kommen wird. «Unseren Daten zufolge liegt die Quote der offiziell unterzeichneten Wahlberichte bei 69,67%. Proportional liegt Kemal Kilicdaroglu bei 47,7% und Recep Tayyip Erdogan bei 45,8% der Stimmen», sagte Yavaş, ein führendes Mitglied von Kılıçdaroğlus oppositioneller Republikanischer Volkspartei (CHP), auf einer Pressekonferenz in der Parteizentrale in Ankara.
Erdoğan auf dem Balkon in Ankara
In den frühen Morgenstunden des Montags trat Erdoğan auf dem Balkon seiner Parteizentrale in Ankara auf und sprach zu seinen Anhängern.
Zunächst, nachdem er ein Lied gesungen hatte, spottete er über seinen Gegenspieler Kemal Kılıçdaroğlu, der seine Wahlkampf-Videos in seiner Küche aufgenommen hatte. «Er ist in der Küche, wir sind auf dem Balkon», sagte Erdoğan.
Er fuhr fort: «Auch wenn die endgültigen Ergebnisse noch nicht vorliegen, liegen wir weit vorne. Wir kennen die endgültigen offiziellen Ergebnisse noch nicht, wir warten immer noch darauf, dass der Wille des Volkes deutlich wird. Während wir auf die Ergebnisse warten, habe ich beschlossen, die traditionelle Balkonrede im Voraus zu halten.» Beobachter werten diese Aussage als klaren Hinweis darauf, dass sich der Präsident damit abfindet, in die Stichwahl gehen zu müssen, dass er aber auch überzeugt ist, diesen zweiten Wahlgang zu gewinnen.
Sieg der AKP?
Bei den gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen stattgefundenen Parlamentswahlen haben Erdoğans AK-Partei und ihre Verbündeten nach bisherigen Ergebnissen eine Mehrheit erreicht. Die AKP verlor zwar etwa 30 Sitze, ist aber immer noch klar stärkste Partei.
Absturz der Lira
Die türkische Lira ist auf ein neues Zweimonatstief abgerutscht, als die Finanzmärkte den Handel im Anschluss an die Wahlen eröffneten, bei denen das Rennen auf eine Stichwahl hinauszulaufen scheint. Die Währung gab bis auf 19,70 zum Dollar nach, bevor sie einen Teil ihrer Verluste auf 19,66 zurücknahm und damit auf dem Weg zum schlechtesten Wert seit Anfang November war. Damit war sie nicht weit von dem Wert von 19,80 entfernt, den sie Anfang März nach den Erdbeben im Februar erreicht hatte.
Die der Regierung nahestehende türkische Nachrichtenagentur «Anadolu» hatte schon kurz nach Schliessung der Wahllokale Erdoğan einen satten Vorsprung von 60 Prozent prophezeit. «Traut den Zahlen von Anadolu nicht», sagte Ekrem Imamoğlu, der oppostionelle Oberbürgermeister von Istanbul.
«Die Sonne ist an ihrem Platz»
Oppositionelle Kreise berichten, dass in vielen Wahllokalen, vor allem in den Kurdengebieten, oppositionelle Wählerinnen und Wähler teils mit Waffengewalt bedroht und gehindert wurden, ihre Stimmen abzugeben.
Meral Aksener, die Vorsitzende der zweitgrössten Partei in Kılıçdaroğlu Oppositionsbündnis, warf dem Erdoğan-Lager indirekt Wahlbetrug vor. «Wir werden uns das nicht gefallen lassen, denn wir haben diesen Film schon oft gesehen.» Sie kritisierte die von Anadolu gemeldeten Ergebnisse. «Wir werden jede Stimme, die unser Volk abgegeben hat, bis zum Ende verfolgen. Wir sind hier bis zum Morgen! Macht euch keine Sorgen; alles ist gut – die Sonne ist an ihrem Platz! WIR SIND AM GEWINNEN!»
Präsident Erdoğan war am Abend, kurz nach Schliessung der Wahllokale, überraschend in Istanbul vor einige seiner Wählerinnenn und Wähler getreten.
Auf Twitter schrieb er: «Die Tatsache, dass die Wahlen am 14. Mai in Form eines grossen Festes der Demokratie mit Frieden und Ruhe stattgefunden haben, ist ein Ausdruck der demokratischen Reife unserer Türkei». Er fügte hinzu: «Ich gratuliere allen meinen Bürgerinnen und Bürgern, die im Namen der Demokratie ihre Stimme abgegeben und sich an der Wahlarbeit beteiligt haben, und ich spreche jedem einzelnen von ihnen meinen Dank aus.»
Starke 5 Prozent für Sinan Oğan?
Die Splitterpartei Ata İttifakı von Sinan Oğan erreichte mit über 5 Prozent der Stimmen ein überraschend starkes Ergebnis. Oğan war früher Mitglied der rechtsextremen, ultranationalistischen MHP, wurde dann aber aus der Partei ausgeschlossen. Er erklärte am frühen Montagmorgen: «Wir haben gehört, dass bei der Stimmenauszählung im Ausland einige Manipulationen vorgenommen werden.»
Sowohl Erdoğan als auch Kılıçdaroğlu werden jetzt im Hinblick auf den zweiten Wahlgang um die Gunst Oğans werben, denn die Stimmen seiner Wählerschaft könnten entscheidend für den Ausgang der Wahlen werden. Analysten in Ankara gehen davon aus, dass der Ultranationalist Oğan eher Erdoğan zugeneigt ist. Einige Beobachter sind überzeugt, dass wenn Oğan nicht kandidiert hätte, Erdoğan schon im ersten Wahlgang das absolute Mehr erreicht hätte.
Journal21.ch (Wird aktualisiert)