Kein «bequemes Ruhekissen» für das Gewissen der Gläubigen, wie im Schlusstext von Bachs Oratorium Matthäus-Passion verheissen, ist die szenische Aufführung auf der Bühne des Theaters Basel gewiss.
Als die Idee einer szenischen Aufführung von Johann Sebastian Bachs «Matthäus-Passion» in den Köpfen der künstlerischen Leitung um Basels Theaterdirektor Benedikt von Peter heranreifte, stand der gegenwärtige Ukraine-Krieg noch in den Sternen. Doch ringsum in unserer Welt kochten und kochen die Konflikte hoch, Menschenrechtsverletzungen, wohin man blickt. Was hilft da das wundersame Phänomen «Glauben» – müssten da nicht Taten sprechen?
Die Verteidigung des Glaubens
Die Debatte ist uralt. Zur Zeit Bachs (1685–1750), in der sich in Europa Reformation und Gegenreformation immer noch auf schreckliche und unversöhnliche Weise gegenüberstanden, wurde jedenfalls «Glaube», welcher auch immer, überall dort aufgerufen, wo es um Sublimierung der Standpunkte ging. Und die grössten Künstler ihrer Zeit stellten sich der Herausforderung, «ihren» Glauben darstellend zu verteidigen. Der seit 1723 als Thomaskantor und Musikdirektor in Leipzig verpflichtete Johann Sebastian Bach war neben der Arbeit an seinem ungeheuer umfangreichen Kantaten- und Orchesterwerk fasziniert von der Möglichkeit, den Gläubigen – ganz im Luther’schen Sinne – das Neue Testament mit dem Schwerpunkt des Lebens und Leidens von Jesus Chistus als Passionsspiel nahezubringen.
Das Passionsspiel in der Kirche
Seit dem Mittelalter waren Mysterien- und Passionsspiele populär. Bach verstand es meisterhaft, diese Passionserzählungen von den Strassen und Plätzen ganz in den Kirchenraum zu bringen. Dabei platzierte er Doppelchöre und -Orchester unter anderem links und rechts vom Publikum und erzielte dabei einen Raumklang, der von vielen Komponisten Neuer Musik auch heute noch – wenn auch digital unterstützt – gesucht wird.
Nach der Komposition des Johannesoratoriums (1724) schuf «der fünfte Evangelist», wie Bach in früheren Zeiten oft verehrungsvoll genannt wurde, mit der Matthäuspassion (BWV 244) eines seiner grössten Werke. Sie wurde 1727 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführt. Der Text der Erzählung folgt mehr oder weniger streng dem Text der Kapitel 26 und 27 des Matthäus-Evangeliums in der Übersetzung Martin Luthers sowie den Dichtungen von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander. Die Choräle stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert.
Die mitleidende Seele
Die eingestreuten, verschiedenen Stimmlagen zugewiesenen, betrachtenden Arien der mitleidenden Seele, welche die Passionserzählung unterbrechen, gehören zu den schönsten Bach-Arien überhaupt. Dabei ist der Alt-Stimme die grösste Rolle zugewiesen. Die zentrale Arie «Erbarme dich, mein Gott! Können Zähren meiner Wangen nichts erlangen» gehört zum Ergreifendsten, was je geschrieben wurde. Angeklagt ist die gesamte Menschheit, die mehr oder weniger ungerührt dem Leiden eines Unschuldigen zusieht. Damals wie heute.
60 Kinder und ein Riesenensemble
Und jetzt im Theater Basel: Hier verkörpern rund 60 Kinder der Mädchen- und der Knabenkantorei Basel in fliessend wechselnder Besetzung sowohl die handelnden Hauptpersonen der Passionsgeschichte als auch die biblische Szenerie und, darüber hinaus, in Chorformation das betrachtende Volk. Ihnen zur Seite gestellt sind die Solistinnen und Solisten, also Sopran, Alt, Tenor, Bassbaritone sowie ein riesiges Chor-Ensemble, bestehend aus dem Theater- und Extrachor, aber auch aus vielen Singvereinen und Laienchören von Baselland und Basel-Stadt. Das ganze riesige Ensemble, das sowohl im Zuschauerraum als auch auf der gesamten, unverstellten Bühne agiert, wird, zusammen mit dem ebenfalls zweigeteilten Sinfonieorchester Basel, musikalisch überlegen zusammengehalten und präzise angeführt vom italienischen Barockspezialisten Alessandro de Marchi.
Mut zu einem Grossprojekt
Benedikt von Peter, seines Zeichens Basler Theaterdirektor und Regisseur, steht engagiert hinter dem etwas gigantomanisch anmutenden Projekt. Mut ist ihm nicht abzusprechen, und der anhaltende Applaus nach der Premierenvorstellung scheint ihm recht zu geben. Der durch die allzu ausgereizte räumliche Trennung der Stimmen etwas zerrissene Gesamtklang aber wird durch die Rührung, welche durch all die ernsthaft stumm und höchst diszipliniert agierenden Kinder, oft in der Manier von Tableaux vivants hervorgerufen wird, wohl wettgemacht. Musikalisch auf zum Teil grandiosem Niveau hielten die internationalen Solistinnen und Solisten sowie die Musikerinnen und Musiker des durch eine Continuo-Gruppe erweiterten Sinfonieorchesters Basel all dem Aufwand um sie her grossartig stand. Ein an Eindrücken reicher Abend.
(Photos: © Ingo Höhn)