Die letzten Parlamentswahlen und der knappe Sieg des mehrfachen israelischen Ministerpräsidenten, Benjamin Netanjahu, liegen gerade einmal einen knappen Monat zurück, da kann dessen Rechtskoalition einen neuen Rekord verbuchen. Wenn auch einen, auf den sie schwerlich stolz sein dürfte.
Nahezu 100’000 Israelis versammelten sich in verschieden Städten des Landes (80’000 allein in Tel-Aviv), teilweise bei strömendem Regen, um gegen eine «Justizreform» zu protestieren, die in ihren Augen der Anfang vom Ende der «einzigen Demokratie in Nahost» sein könnte.
Justizminister Yariv Levin ist dabei, eine Strategie zu entwickeln, die dem Parlamentarismus mehr Macht als bisher im Kräftevergleich mit der Justiz verleihen soll. So soll der Intervention der Justiz ein Riegel vorgeschoben werden, wenn diese sich – wie schon des öfteren geschehen – mit juristischen Argumenten gegen Beschlüsse der Volksvertreter einmischt. In den Augen von Minister Levin und seinen Unterstützern wird dadurch dem «Volkswillen» zur Durchsetzung verholfen und dies sei – so die Verfechter der Reformpläne – schliesslich doch mehr Demokratie, als wenn Juristen ein Vetorecht ausüben können: vom einfachen Rechtsanwalt bis hin zu den Richtern des Obersten Gerichtshofes. Oder – in den Worten Levins: «Wir gehen an die Wahlurne, aber es entscheiden dann Leute für uns, die wir gar nicht gewählt haben.»
Ende der juristischen Kontrolle
Im Klartext: Künftig sollen nicht Paragraphen von nationalen wie internationalen Gesetzbüchern den Ausschlag geben, sondern die «demokratische Mehrheit». Diese Mehrheit beginnt aber bereits bei 61 der 120 Mandate. Und die Regierung Netanjahu kann bereits 64 Knesset-Sitze auf sich vereinen – von Angehörigen des alten nationalistisch-konservativen Lagers über rechtsextremistische Nationalisten bis hin zu national-religiösen Abgeordneten. Bei solch einer Sitzverteilung bedarf es keines mathematischen Talents, das Ende einer juristischen Kontrolle von Parlament und Regierung vorauszusagen.
Ein Beispiel ist der Fall des orthodoxen Parteiführers Arie Deri, der Innen- und Gesundheitsminister werden soll: Deri war vor rund 20 Jahren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, kehrte danach aber in die Politik zurück. Vergangenes Jahr stand er jedoch wieder vor Gericht, das ihn wegen Steuerhinterziehung zu einer Bewährungsstrafe verurteilte. Um Deri und seine orientalisch-orthodoxe Partei für die Netanjahu-Koalition zu gewinnen, beschloss die neue Regierung, dass Bewährungsstrafen kein Hinderungsgrund mehr für ein Regierungsamt seien. Unter den bisher gültigen Regeln wäre dies nicht möglich gewesen, nun steht einem Minister Deri nichts mehr im Weg.
Vor einer rechtlosen Zeit?
Und als Minister wird er nach den Plänen der Justizreform auch Justiz-Berater zugeteilt bekommen, die ihn in juristischen Fragen beraten können und sollen. Und zwar unter Umgehung der bisher dafür vorgesehenen juristischen Berater der Justiz. Ein Grund mehr für Skeptiker in der Bevölkerung, sich auf eine neue und bisher unbekannte rechtlose Zeit einzurichten. Die Demonstrationen vom Samstag werden sicher ihre Nachfolger finden.