Libyen leidet seit dem Ende Ghaddafis immer an dem gleichen Problem: Die libyschen Milizen sind stärker als das libysche Parlament und die libysche Regierung. Die Regierung versucht, ihre eigenen Sicherheitskräfte aufzubauen. Fachleute aus befreundeten Staaten und der UNO helfen ihr dabei.
Doch die Milizenführer wissen, dass sie ihre Macht verlieren werden, wenn es den legalen Behörden gelingt, eigene, den Milizen überlegene Machtmittel aufzustellen und einzusetzen. Die Milizenführer versuchen aus diesem Grund, in die libysche Politik einzugreifen und zu bewirken, dass keine nationale und legale Armee und Polizei entstehen, die in der Lage wären, sie zu entmachten. Was dabei das Fernziel der Milizenführer ist, sagen sie nicht, und vielleicht haben sie es auch selbst nur ganz unbestimmt in ihren Köpfen und Plänen. Zunächst einmal geht es ihnen offensichtlich darum, nicht entmachtet zu werden.
Das Ringen um ein "Isolierungsgesetz"
Als Vorwand, ihre Milizen beizubehalten, bedienten sie sich neben anderen Mitteln, der Frage der "Ent-Ghaddafisierung" Libyens. Sie forderten, dass das gewählte Parlament - genauer der „Allgemeine Nationale Libysche Generalkongress“, wie er sich nennt, - ein Gesetz verabschiedet, das allen Dienern des Staates Ghaddafis politische Aktivitäten in der neuen libyschen Republik auf zehn Jahre verbieten soll. Der Kongress zögerte, ein solches Gesetz zu erlassen, aus zwei Hauptgründen.
Manche der gewählten Volksvertreter in Parlament und Regierung hatten auch unter Ghaddafi gedient, wie es im Fall von Juristen, Diplomaten, und sogar Unternehmern in der weitgehend verstaatlichten Wirtschaft, wie sie zeitweise unter Ghaddafi bestand, unvermeidlich war. Der zweite Grund war, dass es unter den ausgebildeten und politisch, administrativ, militärisch oder wirtschaftlich erfahrenen Libyern nur wenige gab, die sich nie dem Staat Ghaddafis zur Verfügung gestellt hatten. Dieser hatte ja 41 Jahre lang bestanden. Ein allzu weit gefasstes Reinigungs-Gesetz, wie es die Milizenführer verlangten, drohte, den Staat der grossen Mehrzahl all seiner qualifizierten Diener und Fachleute zu berauben.
Druckmittel der Milizen von Tripolis
Um ihren Willen durchzusetzen, griffen die Milizenführer in Tripolis zum Mittel der Belagerung, zuerst des Parlamentes – und das gleich mehrfach - dann, Ende April, des Aussenministeriums und des Justizministeriums. Dies ging ohne Blutvergiessen vonstatten. Der Kongress tagte zeitweise anderen Ortes. Doch die Ministerien wurden wochenlang lahmgelegt und ihre Angestellten ausgesperrt. Schliesslich sah sich der Kongress gezwungen, das verlangte Gesetz zu erlassen. Es wurde das „Gesetz der politischen Isolierung“ genannt.
Freilich, seine genaue Anwendung bleibt noch umstritten, gerade weil es so allgemein formuliert werden musste, dass es potenziell jedermann betrifft, der je in Staatsdiensten gestanden ist.
Immerhin sah sich der Parlamentspräsident, Muhammed al-Magarief, veranlasst, seinen Rücktritt zu erklären. Er hatte dem Ghaddafi-Staat in den 70er Jahren als Botschafter in Indien gedient, war aber nach zwei Jahren von seinem Amt zurückgetreten und hatte dann 31 Jahre lang den Vorsitz einer der Anti-Ghaddafi-Gruppen im Ausland ausgeübt, die sich die Libysche Rettungsfront nannte. Er erklärte in einer Abschiedsrede dem Parlament, das "Isolationsgesetz" existiere nun, und er sehe sich gezwungen, ihm Folge zu leisten. Der Kongress wird einen neuen Vorsitzenden zu wählen haben.
Proteste in Benghazi
Doch die Aktionen der Milizen von Tripolis hatten Folgen in Benghazi. Dort demonstrierten politische Aktivisten vor dem Lager der Koalition aus mehreren Milizen, die sich die Libysche Schutzschild Brigade nennt, und sie forderten deren Auflösung. Einige der Demonstranten waren bewaffnet, doch die meisten waren waffenlose Zivilisten. Der Ursprung der Demonstration scheint ein Streit über die Besitzrechte des Terrains gewesen zu sein, auf dem die Brigade ihr Lager eingerichtet hatte.
Die Schutzschild-Brigade ist eine der Formationen, die einen Pakt mit der Regierung geschlossen haben, Kraft dessen sie eingesetzt werden können, wenn die Behörden ihren starken Arm benötigen. Dies war als Übergangslösung gedacht. Sobald reguläre Sicherheitskräfte bestünden, hätte die Brigade sich auflösen, und ihre Mitglieder hätten als Individuen in die neuen Sicherheitskräfte eintreten sollen. Man kann sich ausmalen, dass eine der Schwierigkeiten in diesem Prozess der erhofften Regularisierung die Frage sein dürfte, mit welchem Rang die Anführer der bisherigen Milizen in die regulären Kräfte eingegliedert werden. Werden sie Generäle, Offiziere oder Soldaten?
Es kam zu Streit mit den Demonstranten, die Milizionäre griffen zu den Waffen und verwendeten offenbar gleich ihre schweren Waffen, Raketen und Artillerie. Am 8. Juni verloren 26 der Protestierenden und 5 der Milizsoldaten ihr Leben. Es gab über 100 Verwundete. Sieben der Verletzten mussten Glieder amputiert werden. Die Ärzte in den Spitälern erklärten, mehrere der Todesopfer seien durch gezielte Brustschüsse mit scharfer Kriegsmunition umgekommen.
Geheimsitzung im Parlament von Tripolis
Das Parlament in Tripolis führte eine geschlossene Sitzung durch, um über den Vorfall zu beraten. Im Verlauf dieser Sitzung trat Yussef al-Mangush, der bisherige Generalstabschef der im Aufbau begriffenen regulären Armee, zurück. Zu seinem vorläufigen Nachfolger wurde sein bisheriger Stellvertreter ernannt. Al-Mangusch war schon bei früheren Gelegenheiten dafür kritisiert worden, dass er den Milizen nicht den Meister zu zeigen vermöge. Er galt als ein "Freund der Milizen", vermutlich war er der Ansicht, dass die Armee immer noch ihrer Hilfe bedürfe.
Die Brigade verschwindet, endgültig? vorläufig?
In Benghazi erklärte ein Sprecher der Armee, das Lager der Schutzschild-Brigade werde "von Obersten der regulären Armee unter Kontrolle genommen". Damit sei erreicht worden, "was die Bevölkerung wünsche", so sagte er. Doch die Beobachter merken an, dass "unter Kontrolle genommen" nicht das gleiche sei wie "aufgelöst". Die Auflösung war die Forderung der Demonstranten gewesen. Von "Kontrolle" kann man theoretisch auch sprechen, wenn die Brigade weiterbesteht. Schliesslich gibt es ja ein Abkommen zwischen ihren Führern und der Regierung. Ein Offizier der Brigade fragte offen gegenüber der Agentur Reuter: "Was für eine Armee hat denn Kontrolle genommen? - Es gibt ja keine Armee ausser der Schutzschild-Brigade!"
Dennoch wird gemeldet, dass das Lager der Schutzschild Brigade nun verlassen daliege. Ihr Kommandant scheine sich versteckt zu halten. Auch andere irreguläre Milizen sollen sich entschlossen haben, ihre Eigenexistenz aufzugeben und in die regulären Sicherheitskräfte einzutreten. Nach den Zusammenstössen von Benghazi erschienen zu ersten Mal neu ausgebildete Polizisten in neuen grünen Uniformen auf den Strassen der zweiten Stadt Libyens.
Handlungsanweisung aus dem Parlament
Nach durchgesickerten Informationen über die Geheimsitzung des Parlamentes soll dieses eine Resolution verabschiedet haben, in der es heisse, die Regierung habe nun alle notwendigen Massnahmen zu treffen, um die Präsenz von irregulären Milizen im Lande zu beenden. Ein Plan sei aufzustellen, wie dies geschehen soll "innerhalb der nächsten zwei Wochen." Ein Richter wurde ernannt, um die Ansprüche und Untaten der Milizen zu untersuchen. Das klingt hoffnungsvoll. Doch man muss daran erinnern, dass schon im vergangenen September, nach dem Sturm auf das dortige amerikanische Konsulat und dem Tod des amerikanischen Botschafters, Grossdemonstrationen in Benghazi gegen die Milizen durchgeführt wurden. Die Hoffnung wurde schon damals geäussert, dass dies das Ende der Milizen bedeuten könne. Doch jene Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung.