Das Räderwerk des ÖV funktioniert an diesem Morgen mit Schweizer Präzision. Der 670iger, ein postgelber Gelenkbus, steht an der erwarteten Stelle vor dem Bahnhof Winterthur und setzt sich, kaum ist man eingestiegen, in Richtung Wülflingen in Bewegung. Der Hochnebel hat sich auf ein paar Wolkennester zurückgezogen und dem hellblauen November-Himmel Platz gemacht. Jetzt müsste nur noch das Dreiklanghorn ertönen, die Musik unserer Jugend, als man in den Ferien noch nicht auf die Malediven, sondern ins Safiental fuhr, dann würde ich zu singen anfangen, „Vo Luzärn uff Wäggis zue...“ oder so ähnlich.
Die Anstrengung beim Steigen und Newtons Gesetz
Der Hang ob Neftenbach leuchtet hell im flach einfallenden Licht der Wintersonne: Wiesen, Rebberge, dahinter der dunkle Wald, der sich gegen den Irchel hin zieht, so geheimnisvoll-einladend, dass ich spontan meine Pläne über den Haufen werfe und bei der alten Post im letzten Moment, dem werktätigen Volk folgend, den Bus verlasse. Meiner treuen Begleiterin Zora, einer Golden Retriever-Hündin, ist das Recht. Eilig sucht sie sich ihren Weg zwischen den ordentlich aufgereihten Einfamilienhäusern bis zu jener unsichtbaren Grenze, wo für das Hundedasein die Freiheit beginnt und die Leine im Rucksack verschwindet
Wir sind in diesem Jahr beide gleich alt, Zora mit ihren zehn Hundejahren und ich mit meinen 70 Menschenjahren. Doch meine Jahre scheinen schwerer zu wiegen, sagen meine Beine, als wir steil durch die Rebberge zur Oberhueb hinaufgehen. Schwere Masse, träge Masse. Beim Steigen ging es um erstere, aber weil wir seit Newton wissen, dass beide gleich sind, kümmert diese Finesse meinen trotz Bise ins Schwitzen kommenden Körper wenig.
Und wenn sie nicht gleich wären?
Wieso eigentlich sind die beiden Massen gleich, die schwere Masse, welche für die Anziehung zwischen zwei Körpern verantwortlich ist, also für die Gravitationskraft, welche der Wanderer spürt, wenn er sich im Aufstieg vom Massenschwerpunkt der Erde entfernt, und die träge Masse, welche uns in den Sitz drückt, wenn das Flugzeug auf der Startpiste beschleunigt? Könnten wir uns eine Welt vorstellen, in welcher die beiden Massenarten nicht gleich sind?
Die Bewegung meiner Beine hat sich längst selbständig gemacht. In meinem Kopf gibt es jetzt Platz für Sir Isaac Newton, der in seinen ‚Principia’, erschienen im Jahre 1687, die Grundlagen der klassischen Mechanik legte und die Gleichheit von schwerer und träger Masse postulierte. Ja, so drehen meine Gedanken weiter und lassen mich dabei die Anstrengung des Aufwärtsgehens vergessen, eine solche Welt liesse sich vorstellen, schliesslich gibt es neben der Gravitation andere Kräfte, zum Beispiel die elektromagnetische, welche nicht an die (träge) Masse gebunden sind. Proton und Neutron haben gleiche Masse, aber das Neutron trägt – im Gegensatz zum Proton – keine Ladung, spürt also gleichsam die ‚Schwere’ des elektromagnetischen Feldes nicht.
Die suggestive Kraft der herrschenden Doktrin
Es wäre amüsant, sich eine physikalische Welt mit Objekten vorzustellen, welche bei normaler träger Masse eine verschwindend kleine schwere Masse haben – oder umgekehrt. Nur ist das jetzt nicht der springende Punkt. Weit spannender ist die Frage, wieso es nach der Veröffentlichung der Principia mehr als 200 Jahre gedauert hat, bis sich jemand ernsthaft damit auseinandergesetzt hat, welche Botschaft uns die Natur mit dieser erstaunlichen Tatsache der Gleichheit von träger und schwerer Masse wohl geben könnte.
Tatsächlich haben viele Generationen von Gelehrten die klassischen Newton’schen Gesetze einfach hingenommen und sich nicht bemüht, hinter deren Kulissen zu schauen. „So ist es halt vom lieben Gott oder von der Natur gewollt, basta!“ mögen Physiklehrer ihren Schülern und Professoren ihren Studenten gesagt haben – falls überhaupt jemand gefragt haben sollte. Die suggestive Kraft der herrschenden Doktrin, des Existierenden! – Rückblickend ist es einfach zu wissen, wo und wie man hätte protestieren und nachfragen müssen.
Einsteins neuer Denkansatz
Erst anfangs des 20. Jahrhunderts hat es einer wirklich ernsthaft getan, Albert Einstein. Sein Gedankenexperiment mit dem Mann im schwarzen Kasten, den es in die Knie zwingt und der wegen der Gleichheit von schwerer und träger Masse nicht zu entscheiden weiss, ob der schwarze Kasten nach oben beschleunigt oder sich eine grosse Masse dem Kasten von unten nähert und so die Gravitationskräfte auf seinen Körper vergrössert, führte Einstein zur Allgemeinen Relativitätstheorie und zum gekrümmten Raum, einer vollständig neuen Auffassung des Raums, ohne die es eine moderne Astrophysik nicht gäbe.
Unterdessen stehe ich auf dem Irchelturm und schaue über das weite Land, auf den stämmigen Kirchturm von Buch am Irchel, die Auenwälder von Rhein und Thur, rechts der Buchberg mit seinen Reben, in der Ferne die Häuser von Schaffhausen und am Horizont der markante Kegel des Hohentwiels. Mein Körper hat den Kampf gegen die schwere Masse längst vergessen, aber meine Gedanken weilen noch immer bei Einstein.
Die richtigen Fragen stellen
Wieso fällt es uns so schwer, eingefahrene Denkmuster zu durchbrechen und die richtigen Fragen zu stellen? Ich bin sicher, unsere Welt ist voller Einstein’scher Fragen, nicht nur in der Physik, wir müssten sie nur sehen – oder riechen, meint Zora – aber nicht erst in zweihundert Jahren, sonst ist es vielleicht zu spät.