Seit Jahresbeginn versuchen die Uno-Vermittler in Libyen eine Einheitsregierung an die Macht zu bringen, indem sie das international anerkannte Parlament von Tobruk dazu überreden, dieser Einheitsregierung zuzustimmen. Falls dies gelingen sollte, wäre eine legale Grundlage geschaffen, um, gestützt auf die westlichen Mächte – europäische und die USA –, gegen den IS vorzugehen. Dieser breitet sich in der Region von Sirte aus, ist aber auch an anderen Orten verdeckt präsent und hat Schläferzellen angelegt.
Hilfe nur für eine Einheitsregierung
Ohne die erhoffte Einheitsregierung wollen die westlichen Mächte nicht offen in Libyen eingreifen, weil es dort zwei rivalisierende Regierungen gibt: die von Tripolis und jene von Tobruk. Wenn der Eingriff von aussen aufgrund der Ermächtigung der einen oder der anderen Rivalenregierung erfolgte, müsste damit gerechnet werden, dass die Gegenregierung dagegen auftreten wird. Sie könnte in diesem Fall das Nationalgefühl der Libyer ansprechen und sie aufrufen, sich alle gegen die Fremden und die «verräterische» Rivalenregierung zu erheben, die sie ins Land gerufen habe.
Dies würde zu Wirren ohne Ende führen, und der IS würde sie ausnützen, um weiter zu wachsen. Deshalb sehen die westlichen Mächte es als unabdingbar an, dass eine Einheitsregierung gebildet werde, die als die legitime Regierung Libyens auftreten kann. Mit ihr wäre dann abzustimmen, in welcher Form sie Unterstützung erhält, um sich gegenüber dem IS (und anderen möglichen Konkurrenten und Opponenten) durchzusetzen.
Zustimmung beider Parlamente im Prinzip
Doch die erhoffte Anerkennung der erwünschten Einheitsregierung lässt auf sich warten. Nach Jahren der Vermittlungsarbeiten und Verhandlungen wurde erreicht, dass am 17. September 2015 eine bedeutende Zahl von Abgeordneten beider Rivalenparlamente zusammen mit anderen als repräsentativ geltenden politischen Figuren – Stammeschefs, Bürgermeistern und anscheinend auch einigen der Chefs bewaffneter Milizen – dem Grundriss einer Einheitsregierung zustimmten.
Dieser Plan sieht folgendermassen aus: Der aus neun Personen bestehende Präsidialrat soll die Einheitsregierung ernennen, und das Parlamanet von Tobruk, das international anerkannt ist, soll ihr zustimmen. Dann soll diese Einheitsregierung an der Macht bleiben, bis neue Wahlen durchgeführt werden können.
Blockade in Tobruk
Der Präsidialrat hatte zuerst eine Riesenregierung vorgeschlagen. Sie sollte 32 Mitglieder umfassen. Das Parlament von Tobruk (international anerkannt) weigerte sich, diesem Vorschlag zuzustimmen – offiziell, weil die Zahl der Minister zu gross sei. Inoffiziell war zu vernehmen, dass es auch Widerstand gegen die Einheitsregierung gebe, weil sie einen Verteidigungsminister vorsah, Mahdi al-Barghati, der unter dem Einheitsplan alle Bewaffneten entweder in eine offizielle Armee einzugliedern hätte, oder sie zwingen müsste, ihre Waffen niederzulegen.
In Tobruk jedoch hat General Haftar, der bisherige Oberkommandant der dort basierten Nationalen Libyschen Armee, militärisch das Sagen. Die Hintergrundinformationen besagten, er weigere sich, seinen Posten an Barghati abzutreten oder unter ihm zu dienen.
Ein zweiter Anlauf
Nach dieser Ablehnung hat der Präsidialrat eine neue Regierungsliste aufgestellt. Sie umfasst noch 18 Namen. Viele der nun nominierten Personen standen nicht auf der früheren Liste von 32 Personen. Doch der Name des Verteidigungsministers, Barghati, ist geblieben.
Das Parlament von Tobruk sollte am 23. Februar über den neuen Regierungsvorchlag abstimmen. Doch dazu kam es nicht. Das notwendige Quorum wurde nicht erreicht. Am 24. Februar wurde eine Bittschrift bekannt, die von 100 Abgeordneten des Tobruker Parlaments unterschrieben war. Darin hiess es, die Unterzeichner seien «mit Gewalt daran gehindert worden» an der Abstimmungssitzung teilzunehmen. Sie träten für eine Zustimmung zu der neuen Regierung ein. Der Ort einer neuen Zusammenkunft des Parlamentes müsse so festgelegt werden, dass alle Abgeordneten ungehindert mitwirken könnten.
Wer an der Behinderung der Abgeordneten Schuld sei, schrieben sie nicht. Es ist jedoch anzunehmen, dass es sich um Bewaffnete handelte, die auf Anweisung oder zu Gunsten von General Haftar eingriffen.
Natürlich hat der Uno-Vertreter und Vermittler, Martin Kobler, energisch protestiert und unterstrichen, es sei unannehmbar, dass die Parlamentarier an der Beschlussfassung gehindert würden.
Inoffizielles Eingreifen der westlichen Mächte
Während die Bildung der erhofften Einheitsregierung sich hinzieht, wächst in der Zwischenzeit der IS. Immer dringlicher mahnen die internationalen Helfer und Diplomaten der Weltmächte die libyschen Politiker, zum Wohl ihres Landes und ihrer eigenen Zukunft endlich zusammenzufinden.
Die bedenkliche Lage Libyens hat auch bewirkt, dass Frankreich, Grossbritannien, Italien und die Amerikaner begonnen haben, diskret aber direkt einzugreifen. Offenbar haben sie alle geheime und irreguläre Sondereinheiten nach Libyen entsandt, die mithelfen sollen, das Land gegen den ausgreifenden IS zu verteidigen.
Dass der IS bekämpft werden muss, darüber sind sich sogar die beiden feindlichen Rivalenregierungen Libyens einig. Es gibt auch einige – nur leider längst nicht alle – der libyschen Milizen, die einer derartigen diskreten Präsenz und militärischen Hilfe zustimmen.
Von britischer und amerikanischer Präsenz in der Form von Geheimtruppen gibt es nur Andeutungen, etwa wenn es heisst, solche Einheiten seien bemüht, den Libyern bei der Bestimmung von Zielen zu helfen. Von den Franzosen weiss man dank Indiskretionen, die von «Le Monde» publiziert wurden, etwas mehr. Entsprechende Informationen wurden inzwischen auch von Libyern bestätigt. Danach sollen französische Spezialtruppen in Bengasi «sehr zielgerichtete Schläge punktuell durchgeführt» haben. Diese Truppen, so verlautet aus Libyen, seien auf der Basis von Benina bei Bengasi stationiert.
Fortschritte in Bengasi
In Bengasi kämpft seit zwei Jahren ohne endgültigen Erfolg die Libysche Nationale Armee unter dem Oberbefehl General Haftars. Doch nun ist es gelungen, zentrale Quartiere der Stadt wie das von al-Laithi von den islamistischen Kampfverbänden zu befreien. Hierzu gehören die Gruppe "Ansar al-Schari'a" und der IS, die beide in Bengasi zusammenarbeiten.
Die Bewohner kehren vorsichtig in ihre teilweise zerstörten Häuser zurück. Die Islamisten haben nach ihrer Gewohnheit beim Abzug Minen und Sprengfallen zurückgelassen, so dass die Rückkehrenden, die ihre Häuser betreten, Gefahr laufen, in die Luft zu fliegen. Dennoch feierten die heimkehrenden Bewohner den endlich errungenen Sieg.
Es heisst, der Hafen von Bengasi sei noch nicht sicher, er befinde sich mindestens teilweise noch in Reichweite der Heckenschützen des IS. Doch die Strasse, die vom Hafen nach der Stadt führt, durchquert das Laithi-Quartier. Das bedeutet, dass die IS-Kämpfer von ihrem bisherigen Nachschub, der sie über den Hafen erreichte, abgeschnitten sind. So scheint denn der lange Kampf um die zweite Hauptstadt Libyens zu Ende zu gehen, offenbar mit entscheidender französischer Hilfe.
Die Nationale Armee Libyens meldet auch, dass sie den Flecken Adschdabiya (Ajdabiya) vom IS zurückerobert habe. Auch dies ist eine oftmals umkämpfte Erdölstadt, etwa 150 Kilometer von Bengasi entfernt gelegen. Sie bildet das westliche Eingangstor zur Cyrenaika.
Amerikanischer Schlag auf den IS bei Sabratha
Die Amerikaner haben ihrerseits am 13. Februar einen grösseren Luftangriff auf eine «Basis» des IS ausserhalb der westlichen Küstenstadt Sabratha durchgeführt. Sabratha liegt etwa 70 Kilometer westlich von Tripolis, auf halbem Weg zur Grenze nach Tunesien.
Dort scheint sich in einem ummauerten Hofgelände eine Art Relaisstation für tunesische Jihadisten befunden zu haben, die entweder ins Gebiet von Sirte weitergeleitet wurden, wo der IS seine Zentrale hat, oder aber auch für Mordaktionen in Tunesien ausgebildet und vorbereitet wurden. Die Amerikaner sagen, sie hätten die dortigen Aktivitäten während Monaten aus der Luft beobachtet und nun zugeschlagen, weil sie Zeichen zu erkennen glaubten, dass die dortigen Jihadisten eine grössere Aktion, möglicherweise sogar in Europa, vorbereiteten.
Khachnaoui, der vermutete Hauptverantwortliche für den Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis vom 18. März 2015, dem zwanzig Touristen zum Opfer fielen, soll sich in dem bombardierten Gehöft aufgehalten haben. Den Angaben nach forderte der amerikanische Eingriff mindestens 41 Tote. Wie viele davon zum IS gehörten und ob sich unter den Toten auch Khachnaoui befand, weiss man nicht.
Es ist bezeichnend für die Hartnäckigkeit des IS, dass wenige Tage nach diesem vernichtenden Schlag, am 23. Februar, eine Gruppe von IS-Kämpfern in Sabratha die dortige Polizeizentrale stürmten und drei Stunden lang in ihrem Besitz hielten. Die Kämpfer waren offenbar aus einem anderen Versteck in der Stadt hervorgestürmt. Die Polizeiverantwortlichen sagten, der IS habe eine Gelegenheit benützt, die dadurch gegeben war, dass die lokalen Polizeikräfte mit einer Razzia ausserhalb Sabrathas beschäftigt waren. Die Kämpfe um die Polizeizentrale hätten vier Tote gekostet, auf welcher Seite, sagten die Quellen nicht.
Chaotische Macht der Bewaffneten
Sogar wenn es am Ende gelingen sollte, die mehrheitliche Zustimmung des Parlamentes von Tobruk zu der erhofften Einheitsregierung zu erlangen und diese dadurch ihre Tätigkeit aufnehmen kann, bleibt die Frage, ob und wo sie zu regieren vermag. Tripolis steht ihr eher feindlich gegenüber. Das dortige – nicht international anerkannte – Parlament hat sich auch sehr energisch gegen die amerikanische Aktion in Sabratha ausgesprochen. Diese, so sagten die dortigen Sprecher, sei ein Vergehen gegen die libysche Souveränität.
Es gibt jedoch Hoffnungen, die Milizen von Misrata, die als die stärksten und einflussreichsten unter den in Tripolis zur «Libyschen Morgenröte» zusammengefassten Kräften gelten, könnten bereit sein, die Einheitsregierung zu stützen. Dies allerdings nur, wenn Haftar von seinem Posten zurücktritt oder aus ihm entfernt wird.
Der Umgang mit den über tausend bewaffneten Gruppen, die in Libyen ihr Unwesen treiben, wird jedenfalls die schwierigste Aufgabe und die eigentliche Bewährungsprobe sein, die der Einheitsregierung bevorsteht – wenn sie denn zustande kommt. Die westlichen Mächte, die sie zu stützen verprochen haben, stehen vor dem gleichen Hindernis.