Seit dem barbarischen Pogrom der Hamas am 7.10. vor allem gegen israelische Kibbuzniks lebt die Mehrzahl der Israelis und Juden seelisch weiterhin im 7. Oktober. Die Forderung nach sofortiger Freilassung der vermutlich noch 101 lebenden Geiseln steht an vorderster Stelle der Demokratiebewegung. Dieser gehört die israelische Politikwissenschaftlerin Fania Oz-Salzberger an.
Die 1960 geborene israelische Politikwissenschaftlerin und Publizistin Fania Oz-Salzberger, Tochter des grossen israelischen Schriftstellers Amos Oz (1939–2018), hat zum 1. Jahrestag des Hamas-Pogroms den schmalen, aber wortgewaltigen Band «Deutschland und Israel nach dem 7. Oktober» vorgelegt. Es ist ein wichtiger, politisch drängender Beitrag für eine Zweistaatenlösung.
Fania Oz-Salzberger gehört zu den wichtigsten Stimmen dessen, was man vor dem Hamas-Pogrom als «das Friedenslager» Israels bezeichnet hat. Die emeritierte israelische Professorin für Geschichte der Universität Haifa wurde auch in Europa mehrfach ausgezeichnet. Sie lebte insgesamt über 1½ Jahre in Deutschland.
Ein Krieg der Hamas gegen Israel
Fania Oz gibt erst gar nicht vor, bzgl. des barbarischen Pogroms von Hamas und des Islamischen Dschihad objektiv oder neutral zu sein. Es war ein vorsätzliches Ermorden und Abschlachten von Juden, wohl ein Jahr lang geplant. Und es richtete sich vor allem gegen Zivilisten, gegen Kibbuzniks, gegen Frauen, Kinder und Babys: Auch «Bekannte meiner Kinder wurden abgeschlachtet».
Fania Oz benennt eine Grenze, jenseits der ein politischer und humaner Austausch mit selbsternannten linken Israelis oder «linken» Deutschen nicht mehr möglich ist: Die «Infantilisierung der Postmodernen Linken» sowie «selbsternannte kritische Intellektuelle» prägten einen Opferdiskurs, der bei vielen «orientalischen Juden» (Mizrachim) zu einer radikalen Abwendung von den aschkenasischen und westlichen Werten geführt hätten: «Menachem Begin ritt die erste Welle dieser Ressentiments, und Netanjahu versuchte während seiner gesamten politischen Laufbahn, diese innerjüdische Spaltung zu vertiefen.»
Der 7.10. war ein «Krieg der Hamas gegen Israel, kein Krieg Israels gegen die Hamas». Es sei der Hamas ganz eindeutig um einen «Völkermord an den Israelis» gegangen. Deshalb sei die vollständige militärische Vernichtung der Hamas eine notwendige politische Forderung. Ohne eine Auslöschung der Hamas könne es keinerlei Gespräche mit palästinensischen Gruppen geben.
Mit vergleichbarer Schärfe betrachtet die Autorin Netanjahus Koalition mit rechtsradikalen Extremisten wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich: Netanjahu habe diese Extremisten «verantwortungslos» in sein Kabinett geholt und gefährde hierdurch die Grundlagen der Demokratie in Israel.
Dennoch sei es geboten, die Emotionen beiseite zu lassen und eine vernunftgeleitete Analyse vorzunehmen. Er gebe heute keinen wirklichen israelisch-deutschen Dialog. In Deutschland sei nicht die Bereitschaft erkennbar, die schwierige Situation Israels angemessen zu akzeptieren. Die Mehrzahl der hierzulande verbreiteten «Erklärungen» zum Nahostkonflikt bezögen sich auf einige wenige, vor allem in Berlin lebende Israelis, die nicht einmal für ein Prozent der Israelis sprächen. Mit ihnen sei kein Dialog möglich. Besorgniserregend seien alle Forderungen nach einem Ende der Erinnerungskultur sowie Ablehnungen der von Angela Merkel betonten deutschen Verpflichtungen gegenüber dem Staat Israel.
Radikale Absage an die Ein-Staat-Lösung
Dies gelte insbesondere für radikale Forderungen, die immer noch das Konzept einer Ein-Staat-Lösung verbal protegierten. Dieses Konzept sei mit dem 7.10. für ihre Generation «gestorben».
Umso bedeutsamer seien alle Konzepte, die weiterhin, trotz aller Rückschläge in den vergangenen sechs Jahrzehnten, ein unabhängiges Palästina neben einem sicheren Israel anstrebten. Eines müsse jedoch unzweideutig öffentlich geklärt sein: «Kein Frieden, solange die Hamas weiterhin in Gaza herrscht. Niemals. Durchaus aber auf lange Sicht eine Übereinkunft mit einer palästinensischen Übergangsregierung.» Sowohl die Fatah als auch die israelische Gesellschaft müsse sich gegen die Fanatiker in ihrem eigenen Land stellen. Dafür gäbe es in Israel weiterhin eine Mehrheit. Etwa zwei Millionen Israelis beteiligten sich regelmässig an den Demonstrationen in Israel gegen die sog. Justizreform.
Sie habe weiterhin Mitleid mit der leidenden Zivilbevölkerung in Gaza, verbitte sich jedoch jeden Vorschlag, gemeinsam mit dieser eine Zivilgesellschaft zu teilen. Dies sei für eine sehr lange Zeit ausserhalb jeder politischen und seelischen Möglichkeit.
Gegen die Shoah als Waffe
Trotz ihrer ausgeprägten Abneigung gegen jegliche Form von Philosemitismus in Deutschland – für das sich in der breiteren Öffentlichkeit in Israel auch niemand interessiere –, trotz ihrer tiefen Abneigung gegen hiesige linksradikal-propalästinensische und sog. postkoloniale Gruppierungen sei es dennoch unerlässlich, dass man in Deutschland «sowohl Israel unterstützende als auch Israel kritisierende Meinungen zum Ausdruck bringen» könne.
Fania Oz zeichnet die Versuche in Israel nach, beginnend mit Menachem Begins scharfer Kontroverse mit Helmut Schmidt in den frühen 1980er Jahren, die Shoah zu einer Waffe zu machen: «Seit mehr als zwei Jahrzehnten wende ich mich gegen diesen Missbrauch der Shoah durch unsere eigenen Politiker.»
Vor allem jedoch ist Fania Oz’ dichte Streitschrift ein Aufruf zum Kampf für die Idee des Zionismus. Diesen Kampf dürfe man auf keinen Fall aufgeben. Der Zionismus, mit dem sie mit ihren Eltern im Kibbuz Hulda aufgewachsen ist, sei säkular, auf Ausgleich orientiert, empfindsam, pragmatisch, friedliebend – und vor allem tatkräftig. Sie erinnert an ihr Aufwachsen in diesem Kibbuz. Dessen Visionen lebten in Israel weiter, auch wenn sich die Rahmenbedingungen hierfür in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert haben: «Das Ideal des Kibbuz ist nicht zerstört worden, sondern erlebt seine Wiedergeburt.»
Der Zionismus sei schon immer auf eine Zwei-Staaten-Lösung orientiert gewesen. Ein «wahnhafter Messianismus» gehöre eindeutig nicht zu ihm. Sie erinnert an ihre vier Grosseltern, die alle nur überlebten, weil sie rechtzeitig flohen.
Der Rechtsruck in Israel laufe parallel zum Rechtsruck in der ganzen Welt. Der Kampf um die liberal-demokratischen Werte sei eine weltweite Herausforderung. Der Kampf dafür dürfe nicht verloren gehen. Es sei an der Zeit, den Zionismus wieder zurückzufordern gegen rechtsnationale und offen faschistische Minister wie Ben-Gvir und Smotrich.
Dieser Kampf müsse innerhalb Israels auch gegen rechtsradikale Siedler geführt werden – wobei nur ein Teil dieser Siedler extremistisch seien. Das Zeitfenster für diesen Kampf um eine friedlichere Zukunft Israels sei jedoch begrenzt. Der Kampf müsse heute ausgefochten werden. Es gebe keine demokratische Alternative zu diesem Kampf.
Die zentralste politische Forderung bleibe ein Geiselabkommen, ein Waffenstillstand – und Neuwahlen in Israel.
«Make Peace, not Love»
In Israel brauche man Zeit, sehr viel Zeit, um die vorsätzliche Barbarei der Hamas vom 7.10. zu «verarbeiten». Schon ihr Vater Amos Oz habe gerne ironisch formuliert: «Make Peace, not Love». Die Idee des Friedens sei die einzige Perspektive für Israels Demokratie. «Hören Sie bitte auf die gemässigten Israelis. Es gibt Millionen von uns. Wir sprechen nicht alle mit derselben Stimme», appelliert Fania Oz-Salzberger an die deutschen Leser.
Es ist gut, dass die Autorin Fania Oz-Salzberger ihre nachdenkliche Kampfschrift auch auf Deutsch vorgelegt hat. Ein wunderbares schmales Werk. Eine wirkliche Ermutigung in fürchterlichen Zeiten.
Fania Oz-Salzberger: Deutschland und Israel nach dem 7. Oktober. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag. 77 Seiten, 12 Euro