Am 25. Februar 2012, in der Nacht auf Sonntag, fuhren in Abbottabad Bulldozer vor dem Hause auf, in dem am 2. Mai des Vorjahres Elitesoldaten der US-Marine den lange gesuchten saudischen Chefterroristen Osma bin Laden erschossen hatten. Im Licht von Scheinwerfern durchbrachen die Baumaschinen erst die hohe Mauer, die das 3000 m2 grosse Grundstück umgab, und machten dann innert Stunden später das dreistöckige Haupthaus dem Erdboden gleich.
Im obersten Stock des Hauses im Quartier Bilal Town hatte sich Bin Laden seit 2005 versteckt gehalten - im Kreise seiner Familie: drei Frauen, acht Kinder und fünf Enkelkinder. Pakistanischen Ermittlern zufolge lebten zeitweise, inklusive Helfern, 27 Personen in den zehn Zimmern des Gebäudes und in den drei Räumen eines Nebenhauses.
Zweifel an der offiziellen Version
Zwar war mit dem Abbruch des Hauses ein Schauplatz beseitigt, der zu einer Pilgerstätte von Anhängern Osama bin Ladens hätte werden können. Die Massnahme hat aber jene offenen Fragen nicht beantworten können, die den Tod des Anführers von al-Qaida nach wie vor umgeben. Vor allem in Pakistan zweifeln etliche Leute an der offiziellen Version der spektakulären Ereignisse des 2. Mai 2011, wie die Amerikaner sie verbreiten. Die USA dagegen interessiert vor allem die Frage, ob Islamabads Armee und Geheimdienst von Bin Ladens Versteck vor ihrer Haustür wussten.
Ein Zweifler in Pakistan ist Ex-Brigadier Shaukat Qadir, der Armeechef Ashfaq Kayani nahe stehen soll. Der 64-Jährige hat, mit Kayanis Support, auf eigene Faust und mit eigenen Mitteln untersucht, was sich in Abbottabad abspielte, bevor amerikanische Navy Seals in jener Mainacht unerwartet vom Himmel kamen. Derweil ist in Pakistan auch eine offizielle Untersuchungskommission unter Leitung eines Obersten Richters am Werk. Sie hätte ihren Bericht ursprünglich im vergangenen Dezember abliefern sollen. Doch dessen Veröffentlichung hat sich wiederholt verzögert – Regierungskritikern zufolge, weil die Erkenntnisse der Kommission den Staat zu stark belasten würden und deshalb erst abgeschwächt werden müssten.
Verrat aus Eifersucht
Dank seiner guten Beziehungen konnte Shaukat Qadir Osama bin Ladens Haus in Abbottabad wiederholt besuchen. Dabei fiel ihm auf, dass das Gebäude überhaupt nicht besonders befestigt oder bewacht schien: „Es war eine Todesfalle, falls es je angegriffen würde.“ Der General im Ruhestand hatte aber auch Einblick in die Vernehmungsprotokolle des pakistanischen Geheimdienstes (ISI) und sprach selbst mit ISI-Agenten sowie mit Militanten im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, die al-Qaida nahe stehen.
Auf Grund seiner achtmonatigen Recherchen ist Qadir zum Schluss gekommen, dass es seinerzeit nicht ein Kurier Bin Ladens war, der die USA auf die Spur des Terroristen gebracht hat, sondern dessen saudische Frau Khairiah Saber, die er in den 80er-Jahren geheiratet hatte. Sie war erst im März 2011 aus dem Iran nach Abbottabad gekommen, wo sie ein Zimmer im zweiten Stock der Villa bezog.
Währeddessen wohnte Osama bin Laden mit seiner 32-jährigen Lieblingsfrau Amal, einer Jemenitin, in einem Raum im dritten Stock des Gebäudes. Eine weitere Frau, die 54-jährige Saudi Siham Saber, lebte in einem anderen Zimmer auf dem gleichen Stock, das auch als Computerraum diente. Amals Aussagen zufolge hat Bin Ladens 24-jähriger Sohn Khalid seinen Vater gewarnt, Khairiah sei lediglich nach Pakistan gekommen, um ihn zu verraten. Qadir ist überzeugt, die energische Khairiah sei seit längerem auf Amal eifersüchtig gewesen.
Operation "Geronimo"
„Ich muss gegenüber meinem Gatten noch eine letzte Pflicht erfüllen“, soll die angeblich 62-Jährige ihrem Stiefsohn auf wiederholte Fragen nach den Beweggründen ihrer Ankunft geantwortet haben. Doch anders als Amal liess sich Bin Laden durch die Warnung seines Sohnes anscheinend nicht beunruhigen und zeigte sich schicksalsergeben. Auch Khalid töteten die Navy Seals in der Operation „Geronimo“. Laut pakistanischen und amerikanischen Geheimdienstlern gibt es keine Anzeichen dafür, dass Khairiah in irgendeiner Weise für Bin Ladens Tod verantwortlich war, obwohl auf den Kopf des Terroristen eine Prämie von 25 Millionen Dollar ausgesetzt war.
US-Regierungsvertreter beharren auf der Version, wonach die CIA dank eines abgehörten Telefonanrufs Bin Ladens Kurier, einem Pakistaner namens Abu Ahmed al-Kuwaiti, auf die Schliche gekommen ist. Al-Kuwaiti lebte mit seinem Bruder und dessen Familie ebenfalls auf dem Grundstück in Abbottabad. Auch al-Kuwaiti wurde am 2. Mai 2011, zusammen mit seinem Bruder und dessen Frau, von den Amerikanern getötet.
Tarnung als gebrechlicher alter Mann
Shaukat Qadir glaubt heute ausserdem zu wissen, wo sich Osama bin Laden aufgehalten hat, bevor er im Frühling 2005 nach Abbottabad kam. Seinen Erkenntnissen zufolge ist der Anführer al-Qaidas Ende 2001 aus den Bergen Tora Boras nach Süd-Waziristan, ein pakistanisches Stammesgebiet in der Nähe der Grenze zu Afghanistan, geflohen. 2002 sollen sich Bin Laden und seine Frau Amal mehrere Monate lang in der Grenzstadt Salman Tab versteckt haben, wo ihn angeblich Khalid Sheik Mohammed, der Drahtzieher der Anschläge des 11. September, mindestens einmal besuchtet (der Kuwaiti wurde ein Jahr später in Rawalpindi vom ISI festgenommen und an die Amerikaner ausgeliefert).
2004 zogen Amal und weitere Familienmitglieder nach Shangla weiter, einer Stadt im Swat-Tal im Nordwesten der pakistanischen Hauptstadt Islamabad. Bin Laden soll sich der Familie auf dem Umweg über Afghanistan angeschlossen haben, weil er fürchtete, unterwegs in Pakistan erkannt zu werden. Amal zufolge hatte sich ihr Mann damals den Bart abrasiert und als gebrechlicher, älterer Paschtune verkleidet. Noch im selben Jahr zügelten die Bin Ladens laut Verhörprotokollen ins 33 Kilometer von Islamabad entfernte Haripur, um im Sommer 2005 schliesslich ins Haus in Abbottabad einzuziehen.
Ein verträumter Bin Laden
Shaukat Qadirs private Ermittlungen werfen auch ein Licht auf Osama bin Ladens Gesundheitszustand, über den westliche Geheimdienste lange Zeit gerätselt hatten. Offenbar war Bin Laden kränker als bisher vermutet. Aus Protokollen von Verhören mit Bin Ladens jüngster Frau will der Ex-Brigadier erfahren haben, dass dem Saudi, der an einer Nierenkrankheit litt, 2002 eine neue Niere eingepflanzt wurde, was aber die Frage offen liesse, wer ihm dabei geholfen hat.
Dafür litt Osama bin Laden laut Qadir an einer degenerativen Alterskrankheit, die eine frühzeitige Senilität zur Folge hatte, Das sei, behauptet der Ex-Brigadier, auch der Grund gewesen, weshalb das Führungsgremium von al-Qaida seinen Chef 2003 in Pakistan in Pension geschickt habe. Derweil glauben andere Quellen, Bin Laden sei auch während seiner Flucht als geistlicher Führer und als Planer von Anschlägen aktiv geblieben. Hätte Qadir recht, würde das jene seltsamen Videoaufnahmen erklären, welche die Amerikaner im Haus in Abbottabad beschlagnahmt haben. Sie zeigen einen verträumten Bin Laden, wie er, auf dem Boden sitzend, gebannt ein Video anschaut, auf dem er selbst zu sehen ist.
Shaukat Qadir ist sich bewusst, dass er für seine Schlussfolgerungen keine unwiderlegbaren Beweise vorlegen kann. Kritiker wie der amerikanische Terrorismus-Experte Peter Bergen werfen seinem Bericht vor, er sei „mit abstrusen Verschwörungstheorien beladen“, was für ein Land wie Pakistan nicht untypisch sei. Der Ex-Brigadier räumt ein, dass ihm seine Informanten beim ISI möglicherweise nicht immer die volle Wahrheit gesagt haben: „Ich wäre in Narr, würde ich das nicht mit einkalkulieren. Ich behaupte nicht, dass es die volle Wahrheit ist. Aber meine Version kommt der Wahrheit derzeit wohl am nächsten.“
Quellen: AP, „ New York Times“, „Washington Post“, „Guardian“, „Independent“