Suggestiv, ein bisschen fragend, mit offenem Blick, dabei auch etwas geheimnisvoll. So sieht Yen Han auf dem Titelbild des Magazins vom Zürcher Opernhaus aus. Das Foto stammt von Florian Kalotay. Ganz cool in schwarz/weiss, ein Bild, dem man sich kaum entziehen kann.
Und jetzt sitzen wir im Ballettsaal C, tief unten in den Innereien des Opernhauses. Yen Han ist auch noch etwas verhudelt von Sturm und Regen, der an diesem Nachmittag über Zürich fegt. Die Schuhe hat sie ausgezogen. Vor dem grossen Spiegel an der Wand macht sie es sich auf der Bank bequem. Die Arme hat sie um die Knie geschlungen und die Knie reichen bis fast ans Kinn.
Traumrolle „Giselle“
„Giselle – das ist eine der wichtigsten Rollen im klassischen Ballett“, schwärmt sie, „und es ist eine der Rollen, die jede Tänzerin irgendwann einmal tanzen möchte.“ Schon als junge Tänzerin, vor inzwischen 17 Jahren, hat sie „Giselle“ getanzt. Ebenfalls in Zürich, aber damals unter Heinz Spoerli. Was war denn damals anders als heute? „Die Rolle ist nicht anders geworden, die Geschichte ist dieselbe.“ Aber sie selbst ist nicht mehr ganz die gleiche. Sie ist älter geworden. Und kann damit mehr Erfahrung einbringen in die Rolle. „There is more behind my emotion…“ sagt sie, es geht tiefer hinter die vordergründige Gefühlsebene.
Im Gespräch pendelt sie zwischen Englisch und Deutsch. Trotz ihres chinesischen Namens und Aussehens ist sie Amerikanerin. Mit ihren chinesischen Eltern ist sie aus Vietnam nach Los Angeles geflüchtet, wo sie als kleines Mädchen auch Ballettunterricht bekam – und Amerikanerin wurde. Später folgte die Dance Academy in Peking und nach einem Abstecher nach Frankreich tanzte sie in Zürich vor. „Prima!“ lautete das Urteil wohl damals, und die Ballerina wurde an der Limmat sesshaft.
Gefühl und Erfahrung
Und Zürich, das heisst für sie auch Heinz Spoerli, dessen Muse sie während seiner Jahre am Opernhaus Zürich war. Und Zürich, das heisst auch „Giselle“, diese Traumrolle, die Heinz Spoerli der jungen Yen Han schon früh anvertraut hat. „Heinz hat mich damals sehr gut an die Rolle herangeführt. Neben Heinz Spoerli, als Choreopgraph, war aber auch Peter Appel als Ballettmeister sehr wichtig für mich. Und jetzt Patrice Bart von der Pariser Oper, der Choreograph der neuen ‚Giselle‘. Auch er war eine wunderbare Stütze. Für mich ist es eine grosse Bereicherung, die Rolle mit zwei verschiedenen Choreographen gemacht zu haben. Vor allem auf der emotionalen Seite.“ Technisch gesehen sei „Giselle“ eine Rolle, die jede Tänzerin lernen kann. „Aber es braucht Gefühle, um sie wirklich verkörpern zu können.“ Natürlich habe sie als junge Frau auch gewusst, was Liebe ist und habe dies auch mit ihren Bewegungen ausgedrückt. „Aber heute empfinde ich die ‚Giselle‘ auf eine ganz andere Weise, dank der Erfahrungen, auch Lebenserfahrungen, die ich seither gemacht habe.“
Sie ist also richtig hineingewachsen in die Rolle. Sie passt heute wie angegossen. „Die Lebenserfahrung hilft, die Rolle natürlicher zu spielen. Man denkt nicht ständig: oh, hier muss ich jetzt zeigen, dass ich glücklich bin, und dort muss ich unbedingt lächeln… Vor allem im zweiten Akt, der sehr lyrisch und dramatisch ist, müssen die Bewegungen die Gefühle ausdrücken und zwar sehr minimalistisch. Es braucht vor allem eine spezielle Technik bei der Fussarbeit.“
In dem Ballett geht es um Liebe und Verrat. Es geht um das Bauernmädchen Giselle, das sich in einen Herzog verliebt, der allerdings bereits vergeben ist. Als Giselle dies erfährt, verfällt sie dem Wahnsinn und stirbt. Als Tote geistert Giselle gemeinsam mit anderen verlassenen Bräuten nachts im Wald umher. Dann tanzen sie so lang mit den treulosen Männern, bis diese aus Erschöpfung sterben.
Tutu und Spitzentanz
Ihre allererste Begegnung mit „Giselle“ hatte Yen Han in Barcelona. „Das vergesse ich nie“, sagt sie heute lachend, damals aber fuhr ihr der Schreck tief in die Knochen. „Beim rückwärts Tanzen bin ich dort unversehens ins Grab gefallen…!“ Das Mitgefühl des Publikums war ihr damals sicher. „Aber für mich war es furchtbar. Wenn man noch jung ist, nimmt man sich solche Zwischenfälle sehr zu Herzen. Heute sage ich, ok, das kann passieren…“
Kleine Mädchen träumen auch heute noch davon, als Ballerina im Tutu über die Bühne zu schweben. Aber klassisches Ballett mit Spitzentanz gibt es heute immer weniger. Dabei liebt auch ein grosser Teil des Publikums die klassischen Ballett-Hits wie „Schwanensee“ oder eben „Giselle“. „Choreographen haben den Ehrgeiz, immer wieder etwas Neues zu kreieren“, sagt Yen Han. „Das ist auch gut so. Aber auf der anderen Seite sollte man die Klassik auch pflegen. Das ist wichtig für beide, also für die Compagnie und für das Publikum. Klassischer Tanz kostet viel Arbeit. Wenn man keine Uebung hat, wenn man also zu selten klassisch tanzt, dann ist es hart. Es ist eine andere Arbeitstechnik. Körperlich muss man anders in Form sein, als beim modernen Tanz, bei dem man – innerhalb eines gewissen Rahmens – freier mit dem Körper umgehen kann. Klassisches Ballett ist strenger.“ Und damit es am Schluss so federleicht aussieht, muss vorher extrem hart gearbeitet und oft auch gelitten werden.
Glücklich in Zürich
Rund zwanzig Jahre hat Yen Han nun beim Ballett im Zürcher Opernhaus verbracht. Mit klassischem Ballett und modernen Tanz. Sie hat Tänzerinnen kommen und Tänzer gehen sehen und hat immer auf den gleichen Brettern weitergetanzt. Hat man da manchmal auch das Gefühl, draussen auf anderen Bühnenbrettern in der grossen, weite Welt etwas verpasst zu haben, wenn man immer im gleichen Haus bleibt? „Nein, überhaupt nicht!“ wehrt sie ab. „Ich bin glücklich mit meiner Karriere in Zürich. Wir hatten so viele verschiedene Gast-Choreographen hier und wir gastieren mit dem Zürcher Ballett an den wichtigsten Orten in aller Welt. Ich hatte nie das Gefühl, etwas zu verpassen. Und ausserdem fühle ich mich in dieser Compagnie geborgen.“
Inzwischen ist Yen Han 42 Jahre alt und hat zwei kleine Söhne, von denen der grössere auch Tanzunterricht bekommt. Tänzer wird er aber wohl nicht, vermutet Yen Han. Zusammen mit ihrem Mann hat sie auch eine eigene Tanzschule. Wie lange sie selbst noch auf der Bühne tanzen wird, weiss sie nicht. „Ich tanze nach wie vor gern“, sagt sie und lässt vorläufig mal eine Saison nach der anderen auf sich zukommen.
Dann zieht sie wieder ihre Schuhe an, schnürt sie gut zu und löscht das Licht im Ballettsaal. Draussen stürmt es unterdessen immer noch. Yen Han spannt den Schirm auf und man fürchtet, eine Windbö könnte die zarte, feingliedrige Person gleich davonpusten. Sie lacht nur, zieht den Kopf ein bisschen ein und marschiert mit strammem Schritt davon. Man sieht: die Bodenhaftung hat sie auch als Primaballerina nicht verloren.