Mit Father Christmas, seinem imaginierten Gast aus England, wandert der Autor vom Zürichbergwald in die Stadt bis zur Limmat und denkt darüber nach, was die Bewohnerinnen und Bewohner in diesen Tagen bewegt.
«Nächste Haltestelle Kantonsschule», ruft die Stimme, welche die Zürcherinnen und Zürcher täglich im ÖV begleitet. Noch beim Aussteigen aus dem übervollen 5er-Tram versucht jeder seine Kameraden mit heiteren Sprüchen über den Schulalltag akustisch zu übertrumpfen. Danach breitet sich im Wagen fast beängstigende Stille aus.
Bei der Kirche Fluntern wechsle ich in den 6er zum Zoo. In der Nacht hat es am Zürichberg geschneit. Jetzt fallen Nassschneepakete von den Bäumen. Eines trifft meinen Nacken. Kühles Nass rinnt an meinem Schal vorbei und verläuft sich irgendwo an meinem Rücken, was das Wandern immer so abwechslungsreich macht.
Ich gehe dem Zoogelände entlang zum Alten Klösterli und weiter auf der Frauenbrünnelistrasse zum Waldhüsli. Hier hätte ich Father Christmas, meinen Gast aus England, treffen sollen, den ich – man geht schliesslich mit der Zeit – über das Internet gefunden habe. Ursprünglich hatte ich für meine Weihnachtsgeschichte einen Gang mit einem echten Zürcher Samichlaus vom Zürichberg in die Stadt geplant, aber in der Samichlauszentrale war ich ausgelacht worden, als ich mich anfangs Dezember meldete. «Alles ausgebucht», hiess es, nur noch ungeimpfte Chläuse seien zu haben. Doch dieses Risiko wollte ich nicht eingehen.
Im Internet fand ich eine Webseite mit einer Übersicht über das verfügbare europäische Weihnachtspersonal. Weil Grossbritannien unterdessen mit uns das Schicksal teilt, von der EU geächtet zu werden und ich nach meinen Erfahrungen mit den Covid-19-Reiseformularen keine Lust auf weitere bürokratische Bocksprünge verspürte, entschied ich mich für einen englischen Father Christmas und verabredete mich für heute beim Waldhüsli ob der Stadt. Kein Problem, er freue sich, werde sich im Wald zu orientieren wissen und über die richtigen Verkehrsmittel verfügen, er unterhalte schliesslich gute Beziehungen zur himmlischen Obrigkeit, schrieb er per Mail.
Doch es kommt anders – wie so vieles in diesen schwierigen Zeiten. Noch im Tram erreicht mich die Nachricht, Father Christmas müsse leider wegen der plötzlichen Relevanz des griechischen Alphabets (delta, epsilon, omikron etc.) auf seine physische Präsenz verzichten. Unser Gang in die Stadt werde virtuell stattfinden. Nein, es sei kein Problem, dass ich meinen Laptop nicht dabeihabe, Zoom sei ohnehin veraltet, und zudem würden wir doch unsere Gespräche nicht dem chinesischen Geheimdienst anvertrauen wollen. Sie hätten in der Weihnachtszentrale kürzlich auf ein ganz neues System umgestellt, auf MEEM (MEntal EMergence), die virtuelle Kommunikation der vierten Art. Diese komme ohne Elektronik aus, denn sie funktioniere direkt von Gehirn zu Gehirn. Ich müsse meine Fragen nur denken, dann gelangten sie direkt zu ihm – und umgekehrt. «Ein neudeutsches Wort für Gedankenübertragung», sage ich mir. Als postwendend sein «... oder Selbstgespräch» zurückkommt, realisiere ich, dass wir offenbar bereits verschaltet sind. Selbstverständlich übersetzt MEEM automatisch zwischen allen beliebigen Sprachen.
Er sei vor mehr als hundert Jahren letztmals in Zürich gewesen, höre ich Father Christmas sagen. Er sei damals ohne seinen Dienstschlitten unterwegs gewesen und mit der neuen Standseilbahn zum Wald hoch über der Stadt gefahren, wo es noch kaum Häuser gegeben habe. Aber ein Kurhaus namens Rigiblick habe er vorgefunden. Daran erinnere er sich besonders gut, denn er habe vor dem Essen einen Sherry bestellen wollen, was die Bedienerin mit einem energischen Kopfschütteln und bösem Blick quittiert hätte. Ihn interessiere, was sich seither in Zürich verändert habe, ob Sherry noch immer verboten sei und wie sich die Stadt ihre Zukunft vorstelle.
Eine klare Vorgabe, sage ich mir, als ich vom Waldhüsli über das Bannholz zum Moos gehe. Im Wald ist zum Glück fast alles beim Alten geblieben, auch wenn die Waldwege zu Waldstrassen geworden sind und es den kleinen Weiher am oberen Ende des Peterstobels vor hundert Jahren noch nicht gegeben hat. Auch heute noch wähnt man sich kaum in «Kanonendistanz» zu einer betriebsamen Stadt.
«Kanonendistanz» kommt mir darum in den Sinn, weil ich unterdessen den steilen Weg zur Batterie hinaufgehe, wo einst die Kanonen zum Schutz der Stadt standen, gute 250 Höhenmeter über dem See. Überhaupt scheine ich mich in der militärischen Ecke des Zürichbergs zu befinden, denn etwas südöstlich davon stosse ich auf den Hanslinweg, benannt nach Adolf Hanslin (1911–1971), dem einstigen Korpskommandanten der Schweizer Armee. Ferner steht dort seit 1899 ein Denkmal, das an die Schlachten bei Zürich vom Juni und September 1799 erinnert. «Was, Krieg in der Schweiz?», höre ich Father Christmas sagen, was mich daran erinnert, dass unsere MEEM-Schaltung noch immer aktiv ist, «ich habe doch einst gelernt, die Schweizer hätten seit Marignano niemals mehr Krieg geführt.»
Ich frage mich, ob er sich sein Bild von der Schweiz wohl auch aus dem Sagenbuch, dem Pestalozzikalender und aus SJW-Heften gebastelt hat wie ich damals in der Primarschule, ein Bild, in dem nach der Vertreibung der Habsburger, die eigentlich Aargauer gewesen waren, die Schweiz zur friedlichen Demokratie geworden ist. – Um Father Christmas nicht in seinem Schweiz-Bild zu verunsichern, beisse ich mir auf die Zunge, denke aber trotzdem ganz kurz an all die Kriege im Innern und im Äusseren, in welche die Schweiz und Schweizer Söldner im Laufe der Geschichte verwickelt gewesen waren, denke an Napoleon, welcher in der zerstrittenen Schweiz – zumindest vorübergehend – eine neue Ordnung installiert und in der zweiten Schlacht bei Zürich seine alliierten Gegner, vor allem die Russen unter General Suworow, aus der Schweiz vertrieben hat.
Das Verflixte mit MEEM ist es, dass alles Gedachte sofort auch zum Gesprochenen wird, denn jetzt höre ich Father Christmas sagen: «Ja, und eure Rolle im Zweiten Weltkrieg ist auch nicht ganz lupenrein gewesen, jetzt rumpelt es halt ein bisschen in eurem neuen Kunsthaus. Aber lassen wir das, bald ist Weihnachten, denken wir an etwas Friedlicheres.»
Nichts Einfacheres als das: Am Waldrand, wo der Hanslinweg zur HInterbergstrasse wird, liegt das Areal des Familiengartenvereins Susenberg: Was kann es Friedlicheres geben als Schrebergärten? Die Schweizer Fahne über dem Gelände, welche sich von der dunklen Schneewolke, die jetzt vom Uetliberg her auf mich zutreibt, nicht beeindrucken lässt, kommt mir für einen kurzen Moment vor wie ein tapferer Eidgenosse vor dem heranrückenden Feind.
Die Hinterbergstrasse! – In ihrer Nähe hatte ich während den vergangenen fünfzig Jahren an verschiedenen Orten meine Arbeitsstätte, zuerst im Seminar für theoretische Physik der ETH an der Hochstrasse, Jahrzehnte später an der Volta- und Herzogstrasse, wo sich einst die Büros des Departementes Umweltnaturwissenschaften der ETH befanden.
Auf ihr bin ich über Mittag oft auf und ab gewandert und habe dabei an archäologische Schichtfolgen gedacht: Unterhalb der Schrebergärten stehen die neuen Villen, weiter gegen die Stadt sind es die älteren Bürgerhäuser und schliesslich zuunterst an der Limmat die Häuser der Altstadt. Nur dass die Schichten im Laufe der Zeit etwas durcheinandergeraten sind, denn am Hang des Zürichbergs standen schon im 19. Jahrhundert einzelne Gebäude. Einige davon haben wie erratische Blöcke überlebt, als in den 1920er Jahren die Villen der reichen Zürcher wie eine steinerne Brandung gegen den bisher ländlichen Susenberg heranzurollen begannen. Ein Beispiel für Letzteren ist die Nummer 65 – heute unter Denkmalschutz –, wo 1842 der Zimmermann Conrad Fehr seine Werkstatt eingerichtet haben soll.
«Ganz schön viel Reichtum hat sich hier angehäuft seit meinem letzten Besuch am Zürichberg», höre ich Father Christmas sagen, «ich fürchte, es wird noch weitere Opfer geben, etwa die Häuserzeile Nr. 11 bis 15 an der Kreuzung zur Gladbachstrasse, der gebe ich wenig Chancen, es sei denn der Denkmalschutz hätte ein Auge drauf.» Nicht alles Moderne sei von vorneherein schlecht, versuche ich entgegenzuhalten, worauf ich meinen virtuellen Begleiter in seinen Bart murmeln höre: «Wenn man nur den neuen Gebäuden etwas mehr Ästhetik und weniger maximale Ausnützungsziffer ansähe.»
An der Hochstrasse endet die Hinterbergstrasse. Der Fussweg in die Stadt führt ein kurzes Stück nach links bis zum Häldeliweg und steil hinunter zur Platte. Im Gebäude neben der alten Villa an der Hochstrasse 60, wo ich vor fünfzig Jahren meine Dissertation geschrieben habe und sich heute eine Kita befindet, hat sich die Werbeagentur «transformer» eingerichtet. Ob damit ein Programm der Quartierentwicklung gemeint ist?
Auf der Karl-Schmid-Strasse zwischen ETH und Universität bleibe ich für einen Moment stehen und erkläre Father Christmas, dass K. S. als Germanist an der ETH gelehrt habe und später ihr Rektor gewesen sei. Der Name der Strasse sei daher ein Symbol dafür, dass die benachbarten Weltspitzen-Hochschulen gemeinsam über die grossen Herausforderungen der Zukunft forschen würden, über Armut und Hunger, Klima und Umwelt, Krieg und Frieden, Gesundheit und soziale Gerechtigkeit.
«Tönt gut und aufgeklärt», unterbricht mich mein Begleiter, «nur scheint mir, um den Glauben an die Wissenschaft sei es schon besser gestanden, besonders jetzt mitten in einer endlosen Pandemie, wo die Wissenschaft dieses Vertrauen eigentlich nötig hätte. Was ist da schief gelaufen mit der viel beschworenen aufgeklärten Gesellschaft, welche jedem Faktenleugner ihr Ohr leiht?»
Ich will gerade zu einer Entgegnung ansetzen, über Freiheit und Respekt vor den Andersdenkenden reden, als mich mein unsichtbarer Wanderfreund schon wieder unterbricht. Er kenne das Reglement der politischen Korrektheit so gut wie ich, gegen das zu verstossen sich heute niemand mehr getraue. Aber ob man sich denn in der Schweiz nicht mehr an jenen deutschen Dichter erinnere, der geholfen habe, den Schweiz-Mythos aufzubauen. Natürlich, der Satz «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern» sei problematisch geworden. Aber ob man denn die Gendergerechtigkeit nicht auch anders hätte erreichen können mit der Parole «Wir wollen sein ein einzig Volk von Individualist*innen»? Und übrigens – er spreche natürlich nur metaphorisch – wie das eigentlich gewesen sei mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit bei den tapferen Vorfahren, zum Beispiel in der Schlacht von Sempach? Und jetzt das Geschrei wegen einer Impfung!
Jetzt geraten wir aufs Glatteis, schiesst es mir durch den Kopf, ausgerechnet auf dem abschüssigen Sempersteig hinunter ins Niederdorf. Ich realisiere, dass ich keine Ahnung habe, wie eine MEEM-Verbindung zu kappen wäre. Wahrscheinlich ist das genau so schwierig, wie seine eigenen Gedanken im Kopf zu unterbrechen.
Auf dem Weg zur Limmat entdecke ich auf einem Ständer vor einem Laden rote Socken, die mit Schweizerkreuzen dekoriert sind. «So weit ist es mit eurem stolzen Wappen gekommen: Es weht über Schrebergärten und prangt auf Socken. Wieso eigentlich nicht in Europa?» – Merry Christmas and Happy New Year!» – Ein kurzes Knacken und Father Christmas ist weg. Nur die Limmat fliesst wie eh und je, und der Blick geht in jene sehnsüchtig machende Ferne, ohne welche die Schweiz nicht Heimat wäre.
Alle Fotos: Dieter Imboden