Die Analyse der grossen Menge von Bildmaterial und elektronisch übermittelten Meldungen über den Giftgas-Angriff in mehreren Ortschaften der Peripherie von Damaskus macht klar, dass diese Materialien nicht alle gefälscht sein können.
Die ersten Meldungen kamen in der Nacht aus den Ortschaften Zamalka, Irbin, Duma, Jobar, Daraya und Muadhamiya, die auf der westlichen und auf der östlichen Seite der Oase von Damaskus liegen, welche Ghouta genannt wird.
Diese Ortschaften liegen zwischen 10 bis 15 Kilometer voneinander entfernt. Die ersten Meldungen besagten, bei den Bombardierungen seien viele, viele Zivilisten getötet worden. Sie seien, ohne äussere Verletzungen aufzuweisen, erstickt. Noch in der Nacht wurden Bilder übermittelt, auf denen Menschen versuchten, bewusstlose Opfer mit Wasser zu waschen. Schon nach Tagesanbruch erreichten uns viele Bilder, auf denen man viele Tote sah.
Frauen waren dem Angriff weniger ausgesetzt
Es sind meist Bilder von Männern und Kindern. Frauen sind weniger darunter. Dies wohl teils deshalb, weil man in der konservativen arabischen Welt teilweise entblösste Frauenkörper nicht gerne fremden Augen preisgibt. Doch wohl auch deshalb, weil Frauen in den Dörfern weniger oft im Sommer auf den Dächern schlafen als Männer und Kinder. Sie waren deshalb dem Giftgas weniger ausgesetzt.
Da die Bilder und Nachrichten zeitlich gestaffelt und an verschiedenen Orten aufgenommen und verbreitet wurden, zeigt, dass es sich schwerlich um Fälschungen handeln kann. Man kann dies zwar nicht mit absoluter Sicherheit sagen, weil theoretisch raffinierte Fälschungsprozesse auch über zeitliche und örtliche Unterschiede hinweg denkbar sind. Doch praktisch ist es ausgeschlossen, dass unter Kriegsbedingungen in einem Dorfmilieu und in kürzester Zeit solch raffinierte Fälschungen durchgeführt werden könnten.
Damaskus spricht nun von wirklichen Angriffen
Diese Informationslage hat auch bereits bewirkt, dass Damaskus seine Darstellungen geändert hat. Zuerst hatten die dortigen Regierungssprecher behauptet, es müsse sich um eine provokative Fälschung handeln, und zwar mit dem Ziel, die jüngsten Niederlagen der Opposition zu übertünchen.
Doch nun, einen Tag später, heisst es im offiziellen Damaskus, die Rebellen hätten den Gasangriff durchgeführt, um die im Lande befindlichen UNO-Spezialisten, die frühere Gasangriffe zu beurteilen haben, in die Irre zu führen. Also geben sie zu, dass die Angriffe stattfanden.
Bis zu 1‘300 Toten?
Über die Zahl der Opfer wird man kaum Gewissheit erhalten. Doch war von vorneherein klar, dass es sich um eine Serie von Angriffen handelt, deren Ausmass und Brutalität alles in den Schatten stellt. In den vergangenen Monaten wurde mehrmals behauptet, dass Giftgas-Angriff durchgeführt worden seien. Sie sollen jeweils zwischen zehn und 20 Tote gefordert haben. Der schwerste dieser Angriffe hatte am 19. März Khan al-Assal in der Nähe von Aleppo gegolten. Damals sollen 26 Menschen ums Leben gekommen sein.
Doch nun ist von Hunderten von Todesopfern die Rede. Sie sollen in der gleichen Nacht in mindestens acht Ortschaften gestorben sein. Opferzahlen von bis zu 1‘300 Toten werden genannt. Dutzende von Todesopfern sind auf Bildern dokumentiert. Dies bedeutet, dass die Angriffe eine neue Dimension erreicht haben.
Wer verwendete Giftgas?
Die Diskussion wird sich in Zukunft nicht darum drehen, ob diese Angriffe stattfanden, sondern darum, wer sie verübt hat. Die syrische Regierung wird eisern daran festhalten, es seien die Rebellen gewesen. Zwar haben diese weder Giftgas-Vorräte noch Flugzeuge, doch die Regierung wird einen eigenen Giftgas-Einsatz weiterhin abstreiten.
Einzig neutrale Fachleute werden in der Lage sein, die Schuldigen zu benennen. Dazu jedoch müssten die Spezialisten sich an den Ort der Einsätze begeben können.
Beweisstücke wären in erster Linie chemisch bestimmbare Erdproben, Teile von Geschossen und Aussagen der Betroffenen. Die Fachleute der UNO, die seit Monaten darauf warteten, die früher gemeldeten Gasangriffe untersuchen zu dürfen, befinden sich nun im Lande. Sie warten jedoch immer noch in Damaskus auf ihren Einsatz. Bisher konnten sie nicht einmal die Ortschaften im Norden Syriens und im Umkreis der Hauptstadt besuchen, aus denen vor Wochen und Monaten Gasangriffe gemeldet worden waren.
Keine Erlaubnis der Regierung
Die Regierung hat ihnen zugesichert, dass sie drei Orte untersuchen dürfen. Mehr nicht. Jetzt haben die UNO-Inspektoren die Regierung umgehend aufgefordert, die jüngsten Angriffe untersuchen zu dürfen. Betroffen sind Orte im Umkreis von nur 15 Kilometern von Damaskus entfernt. Bisher erhielten die UNO-Fachleute keine Erlaubnis. „Berater“ der Regierung liessen durchblicken, dass sie eine solche Einwilligung auch nicht erhalten würden.
Dafür gibt es triftige Gründe. Die Fachleute sagen, die betroffenen Örtlichkeiten müssten innerhalb von zwei Wochen nach den Angriffen besucht werden, um mit Sicherheit Aufschluss über das Geschehen zu erhalten. Es ist anzunehmen, dass die Behörden in der Zwischenzeit „Aufräumungsarbeiten“ durchführen. Sie könnten auch versuchen, alle Augenzeugen sowohl einzuschüchtern als auch zu entfernen. Dies dürfte in den drei Orten, deren Besuch bewilligt wurde, in der langen Wartezeit so gründlich besorgt worden sein, dass die Regierung von der Inspektion nicht mehr viel zu befürchten hat.
Ein indirekter Beweis
Im Falle der jüngsten Grossangriffe ist das Verbot der Asad-Regierung, die betroffenen Ort zu inspizieren, ein deutliches Indiz dafür, dass die Regierung befürchtet, die Untersuchungskommission könnte ans Licht bringen, was Damaskus zu verbergen sucht: nämlich dass seine Streitkräfte die Angriffe durchführten.
Hätten wirklich die Rebellen die Angriffe durchgeführt, hätte die Regierung ja ein Interesse daran, die Untersuchungskommission arbeiten zu lassen. Das offizielle Damaskus versucht mit Ausflüchten das Inspektionsverbot zu begründen. In der Region fänden Kämpfe statt, heisst es, und die Sicherheit der UNO-Leute sei nicht gewährleistet.
Jede Seite glaubt, was sie will
Absolute Sicherheit über das Geschehen wird es nur geben, wenn eine Untersuchung innerhalb der nächsten Woche stattfinden kann. Deshalb ist zu befürchten, dass eine solche Inspektion von der Asad-Regierung verhindert wird. Wenn keine volle Gewissheit geschaffen wird, kann immer die eine Seite das glauben, was sie glauben will – und die andere das Gegenteil.
Für das Regime bedeutet dies, dass seine Anhänger in Syrien und seine ausländischen Sympathisanten und Stützen, Russland, Iran, Hizbullah, vielleicht auch der Irak, weiterhin daran festhalten können, die Schuld liege bei den Rebellen - egal ob dies den Feinden des Asad-Regimes im In- und im Ausland plausibel erscheint oder nicht.