Das Zeitalter des Bullshits färbt ab auf den Journalismus. Wenn es, wie landläufig kolportiert wird, keine Fakten, nur mehr oder weniger bestätigte Meinungen und Interpretationen gibt, dann schiesst, vor allem in den USA, ein journalistisches Genre ins Kraut: der Er-sagte/sie-sagte-Stil.
Täuschende Symmetrie
Der Journalistik-Professor Jay Rosen von der New York University hat ihn in fünf Merkmalen charakterisiert (1): Es existiert eine öffentliche Debatte. Die Debatte kreiert News. Kein seriöser Versuch wird unternommen, konfligierende Aussagen zu überprüfen, selbst wenn der Konflikt eigentlich der Grund für die News darstellt. Das Instrumentarium zum Faktencheck ist verfügbar, aber es wird kein Gebrauch davon gemacht, aus welchen Gründen auch immer. Die Symmetrie der beiden entgegengesetzten Aussagen setzt den Journalisten in die Mitte zwischen mindestens zwei Extremen.
Falsche Ausgeglichenheit
Es gibt so etwas wie den Mythos der Mitte: Wenn wir mit zwei Extrempositionen zu tun haben, dann muss die Wahrheit annähernd in der Mitte liegen. Das heisst, wenn X behauptet, die Erde sei rund und Y behauptet, die Erde sei flach, dann begnügt sich der Er-sagte/sie-sagte-Stil mit der Nachricht: „X sagte, die Erde sei eine Kugel, wogegen Y sagte, sie sei eine Scheibe.“ Heisst das, dass die Erde etwas zwischen einer Kugel und einer Scheibe ist? Jedenfalls ist man mit einer solchen Darstellung fein raus, löst sein Deadline-Problem und überlässt dem Leser die Entscheidung und ist der irrigen Meinung, dadurch „neutral“ und „ausgewogen“ berichtet zu haben.
Das ist das Szenario des Bullshits. Zu schreiben „Y sagte fälschlicherweise, die Erde sei flach“, oder gar: „Y sagte in offensichtlich täuschender Absicht, die Erde sei flach“, setzte allerdings gute Argumente oder solide Evidenz voraus, und das bedeutet meist journalistische Maloche. Das ist das Szenario der Wahrheit. Und genau an dieser Stelle tritt die entscheidende Differenz zwischen beiden zutage: Man bringt den Mut auf, Fraktur zu reden.
Barack Obamas Geburtsurkunde
Genau das geschah am 17. September, als die New York Times auf der Frontseite verkündete: „Donald Trump klammerte sich jahrelang an die ‚Geburts-Lüge’ und bereut immer noch nicht.“ („Donald Trump Clung to ‘Birther’ Lie for Years, and Still Isn’t Apologetic.“) Was genau war geschehen? Trump hatte 2011 das Gerücht in Umlauf gesetzt, Präsident Obama sei gar nicht in den USA geboren worden. Es stellte sich schnell als mutwillige Unterstellung heraus, die sich aber hartnäckig in der Öffentlichkeit behauptete. Ein Er-sagte/sie-sagte-Journalismus hätte sich damit begnügt, die Lüge als „Meinung“ unter anderen darzustellen, aber dieses Mal schien eine Art seismischer Ruck durch die Medien zu fahren. Dem NYT-Artikel folgten andere, zum Beispiel in der Washington Post (2), es folgten Analysen in der Columbia Jornalism Review (3), in The Atlantic (4), um nur einige zu nennen. Der Moderator Stephen Colbert nannte Trump mehrmals „Lügner“. In einem Fernseh-Interview bestritt ein Wahlhelfer Trumps, dass während fünf Jahren an der „Geburtslüge“ festgehalten worden sei. Der Schlagabtausch zwischen Fernsehmoderator Jake Tapper und Wahlhelfer Chris Christie auf CNN (18.9.2016) ist eines Monty-Python-Sketches würdig (5):
Jake Tapper: Donald Trump akzeptierte es nicht als Beweis, als Barack Obama 2011 seine Geburtsurkunde zeigte. Er blieb bei seinem ganzen Geburtsding bis letzten Freitag. Das sind fünf Jahre. Deshalb möchte ich Sie fragen ...
Chris Christie: Nein, Jake, das ist einfach nicht wahr. Es ist einfach nicht wahr, dass er fünf Jahre daran festhielt.
J.T.: Sicher tat er das.
C.C.: Das ist einfach nicht wahr.
J.T.: Das ist wahr.
C.C.: Es war nicht so, dass er darüber redete – nein, Jake, es war nicht so – es war nicht so, dass er bis letzten Freitag regelmässig darüber redete.
Höhepunkt der politischen Argumentationskunst im mächtigsten Land der Welt? Glenn Kessler von der Washington Post kommentierte die „Debatte“ unverblümt: „Regelmässige Leser wissen, dass wir uns scheuen, das Wort ‚Lüge’ zu gebrauchen, aber entweder lügt Christie oder er ist derartig falsch informiert, dass er im Fernsehen nichts zu suchen hat.“
Bullshit happens
Es geht nicht nur um Polit-Pinocchios, auch nicht um die Wahlkampf-Hysterie in den USA, nicht einmal vordringlich um Politik. Es geht darum, dass wir zu verlernen scheinen, was eine Lüge bedeutet. Etwas zu sagen, das sich als falsch herausstellt, ist normalerweise Anlass zur Überprüfung dessen, was man gesagt hat. Das nennt sich auch Anpassung der Meinung an die Wirklichkeit. Was wir zur Zeit, nicht nur in der amerikanischen, sondern auch in der europäischen – ja, horribile dictu: in der schweizerischen – Politik beobachten, ist die Anpassung der Wirklichkeit an die Meinung.
Fatalerweise geht der elementare Appell des Wörtchens „wahr“ vergessen: sich nicht zu bescheiden mit einem faulen Angebot von Meinungen; das Geschäft des Beweises, des Belegs, der Nachforschung, der Überprüfung, nicht zuletzt des eigenen Augenscheins dann aufzunehmen, wenn wir statt des „Er sagte/sie sagte“ das „So sind die Dinge, Punkt“ hören möchten. Das Geschäft ist oft schwierig, mühsam, riskant, vielleicht lebensgefährlich. Und es gedeiht nur in einer Gemeinschaft von Menschen, die sich bestimmten regulierenden universellen Ideen und Massstäben verpflichtet fühlen. Nur so bewahren wir uns eine Welt, die in ihrem Innersten nicht allein von Predigten, Pressekonferenzen und Talkshows zusammengehalten wird. Eine Welt, in der es Sachen gibt – Sachen zumal, die aufzudecken uns wichtig und die zu verschweigen verderbt ist. Wenn der Wahlkampf in den USA wie kaum je zuvor etwas zeigt, dann dies: Bullshit happens!
(1) Jay Rosen: He Said, She Said Journalism: Lame Formula in the Land of the Active User; http://archive.pressthink.org/2009/04/12/hesaid_shesaid.html
(2) Glenn Kessler: Christie’s claim that Trump did not ‘on a regular basis’ spout birther nonsense after 2011; https://www.washingtonpost.com/news/fact-checker/wp/2016/09/18/christies-claim-that-trump-did-not-on-a-regular-basis-spout-birther-nonsense-after-2011/
(3) David Uberti: Big lie, little lie, and the media’s role in telling the difference, 20.9.2016; http://www.cjr.org/criticism/trump_birtherism_lie_media.php
(4) Peter Beinart: The Death of ‚He Said, She Said’ Journalism; The Atlantic, 19.9.2016; http://www.theatlantic.com/politics/archive/2016/09/the-death-of-he-said-she-said-journalism/500519/
(5) Es gibt tatsächlich einen solchen Sketch: Argument Clinic; https://www.youtube.com/watch?v=kQFKtI6gn9Y