Ein feiner Nebelschleier liegt über der Geländemulde, in der sich das kleine Dorf duckt, als wir das Auto auf dem Parkplatz am Dorfeingang abstellen. Der mächtigste Baum im Kanton Aargau erinnert mit seinen kahlen Ästen vor dem milchig-weissen Hintergrund ein bisschen an einen mehrarmigen Buddha. Die Linner Linde, 25 Meter hoch und mit einem Stammumfang von elf Metern, sei zum Gedenken an die Pest, welche im 16./17. Jahrhundert in der Gegend wütete, von einem überlebenden Bewohner gepflanzt worden, sagt die Legende. Doch tatsächlich ist die Sommerlinde (Tilia platyphyllos) viel älter. Sie wird auf rund 800 Jahre geschätzt.
Zuerst sind wir enttäuscht, dass sich ausgerechnet hier oben am Bözberg, den wir für unsere heutige Wanderung ausgewählt haben, ein Nebelnest versteckt hat, wo doch auf der Fahrt vom Zürichsee die immer grösser werdenden blauen Flächen zwischen den tief hängenden Wolken einen schönen Tag versprochen hatten. Doch so schnell lassen wir uns nicht umstimmen und folgen entschlossen dem Weg, der von der Linde südwärts zum Linnerberg hinaufführt. Schon nach wenigen Schritten tauchen wir aus dem Nebel und sehen beim Zurückschauen, wie sich die obersten Äste der Linde bereits der Sonne entgegenrecken.
Am Waldrand empfängt uns das fröhliche, wenn auch noch etwas monotone Gezirpe der Kohlmeise, scheinbar wütend unterbrochen vom Hämmern eines Spechtes, der sich mit seinen Klopf-Sequenzen partout nicht an die Taktvorgabe der Meisen halten will. Sein Schlagen tönt hohl; wir vermuten ihn hoch oben am Stamm einer abgestorbenen Buche, bekommen ihn aber nicht zu Gesicht.
Der Waldweg führt in grossen Kehren bergan. Aufrecht und stoisch blickt uns auf einem Entwässerungsschacht am Wegrand ein kleines Wesen entgegen, das wegen seines Kopfes von weitem an einen Miniatur-Steinbock mahnt. Der unbekannte Schnitzer wird, wie wir beim Näherkommen erkennen, wohl eher einen Hasen vor Augen gehabt haben. Der würde ja auch besser in den Aargauer Jura passen.
Da wo wir den Grat des Linnerberges erreichen und sich der Blick ins Aaretal und hinüber zur Habsburg öffnet, braust, wie die Karte verrät, unter unseren Füssen der Verkehr der A3 durch den 1996 eröffneten Autobahntunnel. Seltsam, diese zwei Welten, in der Vertikalen keine 200 Meter voneinander getrennt, die sich hartnäckig zu ignorieren scheinen! – Was wissen die eiligen Fahrer, die von Basel nach Zürich und vielleicht weiter zum Arlberg und in die spätere Heimat der Habsburger unterwegs sind, von den Dörfern und Burgen dieser Gegend, deren Geschichte während Jahrhunderten von ihren adligen Vorfahren geprägt worden ist? Ahnen sie etwa, dass sie in ihren Autos beim Weiler Leumli ein winziges Tälchen mit dem grossspurigen Namen „Heerestal“ unterqueren und danach fast die Wurzeln einer uralten Linde streifen, welche im Laufe ihres langen Lebens Aufstieg und Fall einer Dynastie erlebt hat?
Der Autobahntunnel ist nicht das erste Loch, das man durch den Linnerberg getrieben hat. Im Jahre 1875 nahm die damalige Bözbergbahn die direkte Verbindung zwischen Brugg und Basel via Bözbergtunnel (Länge 2526 m) und Frick in Betrieb. Und am 6. November 2020 ging, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, der neue Bözberg-Bahntunnel in Betrieb. Bis 2022 soll der alte Tunnel zum Rettungsstollen umgebaut werden.
Die beiden Bahntunnels kreuzen wir – wenigstens auf der Karte – bei einer markanten Wegkreuzung, wo unsere Route den Grat verlässt und entlang des Abhangs des Dreierbergs zur Buechmatt führt. Links unten, versteckt in der steilen Flanke des Längibachtals, gibt es einen Ort namens Täuferchile, ein Name, der uns, zugleich schmerzlich und befremdend, an die einstigen Folgen religiöser Intoleranz erinnert, welche auch die „reformierte“ Schweiz nicht verschonte.
Wir verlassen den Wald und schauen in ein tief eingeschnittenes Tal, das teilweise durch eine bewaldete, markante Erhebung verdeckt wird. Man ist es gewohnt, Burgen von unten, als Silhouetten gegen den hellen Himmel, zu sehen. Nicht hier: Wie in einem Landschaftsmodell blicken wir von oben auf die mächtige Burgruine Schenkenberg, welche an der höchsten Stelle des Geländerückens steht.
Doch lassen wir den Schenkenberg noch für einen Augenblick; wir werden ihn später auf der Ostseite umrunden und danach von Thalheim aus die Burg, jetzt mächtig über dem Dorf thronend, noch einmal sehen. Wenn schon wegen der Pandemie alle Wirtschaften geschlossen sind, wollen wir wenigstens irgendwo das mitgebrachte Picknick geniessen. Am Waldrand westlich vom Weiler Elmhard stossen wir auf ein kleines Paradies. Ein Waldbesitzer hat hier seinen Werkplatz mit Blumenbeeten und einer kleinen Mauer verschönert, welche uns die Stühle der fehlenden Gartenwirtschaft ersetzen.
Während der Rast schweifen unsere Gedanken zurück zum Hochplateau des Bözbergs, zu all den Menschen, welche hier während Jahrtausenden ihren Weg vom Fricktal ins Aaretal gesucht haben, um diesen im Vergleich zur Route entlang der Flüsse über Koblenz zu verkürzen.
Doch was heisst schon „verkürzen“? Wo man heute im Zug oder im Auto in kaum drei Minuten durch den Tunnel von einem Tal ins andere gelangt, war früher der Weg über den Berg für Mensch und Ware beschwerlich. Von Westen kommend bildete das kleine Dorf Effingen – dem Bahnfahrer zwar nie sichtbar, aber vielleicht noch bekannt als der Name einer heute nicht mehr bedienten Station am Westportal des Bözbergtunnels – schon immer Ausgangspunkt aller gängigen Routen. Es wird vermutet, dass die Römer von Augusta Raurica (Augst) nach Vindonissa (dem heutigen Windisch) hinter Effingen den sogenannten Römerweg durch das „Windistel“ (Windischtal) hinauf nach Altstalden benutzten und dann weiter zur Fähre über die Aare bei Stilli zogen. Ob der östlich von Effingen in einem steilen Waldstück in den Fels gehauene Karrenweg tatsächlich eine alte Römerstrasse ist oder ein Überbleibsel aus dem Mittelalter, ist allerdings umstritten.
Wir haben für unsere Wanderung die südliche Route gewählt. Sie führte von Effingen hinauf nach Linn und zum Linnerberg und suchte sich dann den Weg zwischen Zeihergutsch und Dreierberg hinunter nach Schinznach und Schinznach Bad, wo es eine Fähre über die Aare gab. Schliesslich baute man 1779 entlang einer mittleren Route, wo die heutige Kantonsstrasse verläuft, eine Strasse über den Stalden nach Brugg. Sie war allerdings anfangs für den Transport von schwerer Ware zu steil und machte den Weg über Koblenz noch für lange Zeit nicht überflüssig.
Soviel über die Mühsal früherer Zeiten. – Frisch gestärkt gehen wir weiter zum Weiler Schenkenberg, umrunden den gleichnamigen Hügel und finden uns plötzlich in einem steil nach Thalheim abfallenden Rebberg. Auf den Abstecher zur Ruine verzichten wir, um im Dorf den nur jede Stunde verkehrenden Bus nicht zu verpassen. Beim Warten erblicken wir hoch oben die mächtige Burg von neuem, nun von der andern Seite. Man kann sich vorstellen, dass ihr Anblick manchem Dorfbewohner Ehrfurcht, ja Schrecken eingeflösst haben muss. Später lese ich, sie sei anfangs des 13. Jahrhunderts im Auftrag der Habsburger gebaut worden, um die Umgebung ihrer Stammburg auf der andern Seite der Aare zu sichern.
Unvermutet tritt mir ein Stück Schweizer Geschichte entgegen. Die Habsburger hätten nach der verlorenen Schlacht bei Sempach ihre Burg aus Geldnöten verpfänden müssen. – Ist es nicht so: Was wir in der Schule als Kampf der Eidgenossen gegen die Österreicher gelernt haben, war in Wirklichkeit ein Kampf der Innerschweizer gegen die heutigen Aargauer, nur dass Letztere sich damals noch nicht so nannten. Auf ihren eigenen Namen und auf Napoleons Hilfe mussten sie noch bis zum Jahre 1803 warten, denn nach der Vertreibung der Habsburger aus dem unteren Aaretal im 15. Jahrhundert herrschten dort die Berner. Ihr Landvogt residierte bis ins frühe 18. Jahrhundert in der Burg. Als diese, baufällig geworden, eine Gefahr für die Bewohner wurde, zog der Landvogt ins Schloss Wildenstein bei Veltheim, und die Burg auf dem Schenkenberg zerfiel.
Unterdessen ist der Bus eingetroffen. Nach der Fahrt am Schloss Kasteln vorbei – sie ist gleich alt wie die Burg Schenkenberg, wurde später zum Barockbau umgebaut, ist sehr gut erhalten und würde eine eigene Geschichte verdienen –, durch Oberflachs und Schinznach Dorf erreichen wir Umikon, an der Aare gegenüber Brugg gelegen, und warten dort gute zwanzig Minuten auf den Anschlussbus zum Bözberg. Eigentlich wäre es von hier nicht weit bis nach Linn, wo unser Auto steht, aber der Bözberger Bus bietet seinen Passagieren zuerst noch gratis eine Sightseeing Tour durch die weitläufige Gemeinde Bözberg. Sie besteht, verteilt über die Hochebene, aus vielen Fraktionen, deren Namen neugierig machen: Hinterer, Mittlerer und Oberer Hafen (woher wohl der Name kommt?), Ursprung, Kirchbözberg, wo tatsächlich eine Kirche steht, Egenwil, Alt- und Neustalden, Gallenkirch und schliesslich, im südwestlichsten Zipfel, das uns bereits vertraute Linn mit seiner Linde. Hier steht sie, bereit für die nächsten Jahrhunderte, und lässt sich ihre dunkeln Äste von der Sonne bescheinen. Sie wird uns – hoffentlich – alle überleben.