Die Horizontlinie schneidet den unendlichen Raum in zwei gleich hohe Streifen. Der obere Streifen ist fast schwarz, der untere heller. Die Landschaft der weltweit grössten Salzpfanne auf der Anden-Hochebene Boliviens auf 3657 Metern Höhe gibt unserem Denken Raum. Nichts stört die Konzentration. Die Fotografie hängt in den Räumen der Fotostiftung Schweiz in Winterthur in der Ausstellung „Als ob die Welt zu vermessen wäre“ von Guido Baselgia. Nicht weit davon entfernt sehen wir wiederum einen weiten Horizont. Hier blicken wir aber nicht in die Leere, sondern auf das Blätterdach eines riesigen Regenwaldes in Ecuador. Das erste Foto entstand 2006, das zweite 2018.
Alchemistische Dunkelkammerarbeit
Lange Zeit befasste sich Guido Baselgia in seinen Fotografien und Fotobüchern kompromisslos mit kargen Landschaften in Extremlagen unseres Planeten. In den vergangenen Jahren wählte er – auch das in kompromissloser Langzeitarbeit – den Regenwald Ecuadors, ebenfalls eine landschaftlich-klimatische Extremsituation, zu seinem Experimentierfeld. Der analogen Schwarzweiss-Fotografie und der Dunkelkammer blieb er, wie stets, treu – ungeachtet der vielen technischen Probleme, die das feuchte Klima und die schwüle Hitze des Urwaldes mit sich brachten, ungeachtet der Beschwernisse, welche die Grossformat-Kamera mit ihrem Gewicht im unwegsamen Wald verursachte, durch den er und seine zwei Mitarbeiter sich mit der Machete einen Weg zu bahnen hatten. Diese Arbeiten des gut 65-jährigen Künstlers bilden den Schwerpunkt der Winterthurer Ausstellung, die Teresa Gruber kuratierte.
Guido Baselgia ist konsequent. Er verweigert sich der digitalen Technik und verzichtet auf Farbe. Er vertraut auf die sinnliche Qualität der Silbergelatineabzüge auf Barytpapier und auf die unendlich vielen Tonwert-Abstufungen, die sich in der alchemistisch anmutenden Dunkelkammerarbeit erreichen lassen. Er huldigt damit der traditionellen handwerklichen Technik der Fotografie – und zugleich betont er so den konzeptuellen Charakter seiner fotografischen Arbeit, die er in den Dienst einer schrittweisen und damit auch nachhaltigen und bis ins Detail genau reflektierten Wahrnehmung stellt.
Das „misslungene Bild“
Das Foto, das den Blick auf den Regenwald zeigt, ist dafür ein Beispiel. „Es ist misslungen“, sagt Baselgia. Misslungen? Tatsächlich ist der Himmel fleckig. Striemen ziehen sich über die Fläche, Wasserflecken trüben das Bild. Baselgia zeigt das Bild trotzdem und machte es sogar zum Sujet des Ausstellungsplakats.
Es geht ihm nicht um perfekte Ästhetik. Eher ist man geneigt, von Ehrlichkeit zu sprechen. Erst zu Hause im Bündnerischen Malans stelle der Fotograf fest: Der Film litt unter den extremen klimatischen Bedingungen, Filmblätter klebten aneinander. Ein „schönes“ Bild liess sich nicht bewerkstelligen. Was nun der Abzug des einzigen geretteten Films zeigt, thematisiert die Problematik der Wahrnehmung und damit die Schwierigkeit, das erlebte Bild in Erinnerung zu behalten. Das „misslungene Bild“ ist Programm.
Vertrauliches Einvernehmen
Auch andere Arbeiten thematisieren ein skeptisches Bedenken der eigenen Arbeit in dieser Extremsituation. Da Guido Baselgia ohne Hilfe und vor allem ohne das Wissen der Menschen, denen der Regenwald Lebensraum ist, seine Arbeit nicht hätte tun können, wollte er ihnen in seinem Projekt einen Stellenwert geben. Auf den Wald-Aufnahmen selber sind aber keine Menschen und auch keine Spuren von Menschen zu sehen. Um den Menschen der Region im Projekt trotzdem Gegenwart zu geben, schuf er einen eigenen Bilderstrang mit Porträtaufnahmen. Die Gesichter sind gross, beinahe formatfüllend. Die Menschen schauen den Fotografen – und damit auch uns als Betrachterinnen und Betrachter – aus weit geöffneten Augen an.
Die Bilder bezeugen ein vertrauliches Einvernehmen. Für Baselgia ist, wie er betont, das Abbilden eines Menschen immer ein problematisches Unterfangen. Das Unbehagen macht er spür- und für uns nachvollziehbar, indem er mit der Verwendung einer Art vorbelichteten Papiers eine verfremdende Wirkung einbaut und zugleich den Menschen eine eigene Aura gibt.
Politische Stossrichtung?
Der Fotograf nimmt uns als Betrachterinnen und Betrachter der Bilder hinein in den Regenwald und lässt uns diesen Raum mit seinem Reichtum an Pflanzen, mit den Bäumen mit ihren schrundigen Rinden, mit den Blättern und Ranken erleben. Er gibt der üppigen Vegetation mit dem Mittel genau überlegter Ausschnitte und mit dem konzentrierten Blick auf Einzelheiten Nähe und Volumen. Und er lässt uns die unendlichen Spielarten des Lichtes in diesem feuchten und nebligen Dschungel erleben. Wir erahnen die unergründliche Tiefe des Raumes.
Es wäre naheliegend, einen Bogen von diesen Bildern zu aktuellen Klimadebatten oder zur Kontroverse um das Abholzen von Regenwäldern im Amazonasgebiet zu schlagen. Baselgia tut das nicht – was allerdings nicht heisst, dass er einer Ästhetisierung dessen, was er zeigen will, das Wort redet: Qualität und Stringenz seiner künstlerischen Recherche machen die politische Stossrichtung des Projektes offensichtlich.
Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, Winterthur. Bis 16. Februar
Publikation: Als ob die Welt zu vermessen wäre. Herausgegeben von der Fotostiftung Schweiz. Edizioni Periferia Luzern. In der Ausstellung 48 Franken, im Buchhandel 58 Franken.
- Die dem Äquator nahe Gebirgsgegend hat einen anderen nicht genugsam betrachteten Vorzug: Es ist der Teil der Oberfläche unseres Planeten, wo im engsten Raume die Mannigfaltigkeit der Natureindrücke ihr Maximum erreicht.
(Alexander von Humboldt, Kosmos, zitiert von Guido Baselgia in der Ausstellung.)