Ministerpräsident Putin schien in der vergangenen Woche den neuen Schuldspruch gegen Chodorkowski schon vorweggenommen zu haben, als er in seinem jährlichen Fernseh-Auftritt zu Fragen aus der Bevölkerung erklärte, Chodorkowski sei nun einmal ein Dieb und ein Dieb müsse sitzen. Diese Äusserung ist in einigen russischen Medien als ungehörige Einmischung der Politik in ein hängiges Justizverfahren kritisiert worden.
Auch Präsident Medwedew schien ob dieser Intervention nicht wohl in der Haut zu sein. Jedenfalls erklärte er einige Tage darauf, staatliche Vertreter sollten sich mit Stellungnahmen in dieser Sache zurückhalten, bis das Urteil gefällt sei.
Was Putins Diktum betrifft, so kann man argumentieren, dieses habe sich ja nicht explizit auf den zweiten Chodorkowski-Prozess bezogen, sondern nur auf die Tatsache, dass der frühere Ölmagnat aufgrund des ersten Urteils seit sieben Jahren im Gefängnis sitzt.
Politische Unvorsichtigkeit des Yukos-Chefs
Der heute 47-jährige Chodorkowski war bei seiner spektakulären Verhaftung im Jahre 2003 der reichste Mann in Russland und Hauptaktionär von Yukos, des grössten Erdölkonzerns im Lande, den er nach dem Zerfall der Sowjetunion im Zuge eines chaotischen Privatisierungsprozesses zusammengebaut hatte. Niemand behauptet, bei Chodorkowskis Aufstieg zum Business-Tycoon sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Zwar galt der Yukos-Konzern später als das modernste und transparenteste russische Gross-Unternehmen. Doch zuvor hatte der einstige Komsomol-Funktionär Chodorkowski teilweise sehr unzimperliche Methoden benutzt – nicht zuletzt im Umgang mit Minderheitsaktionären – , um den Yukos-Konzern zu einem derart mächtigen Konglomerat anwachsen zu lassen.
Offenkundig hatte Chodorkowski seine Einflussmöglichkeiten auf dem Höhepunkt seiner geschäftlichen Erfolge überschätzt, als er anfing, sich auch politisch zu engagieren und die in Russland fragmentierte Opposition finanziell zu unterstützen, sowie Sozialprojekte und Bildungseinrichtungen aufzubauen. Damit geriet er dem neuen Machthaber Putin in die Quere, der seit dem Jahr 2000 als Nachfolger Jelzins im Kreml herrschte. Putin hatte mit den Oligarchen vereinbart, die Ergebnisse der fragwürdigen Privatisierungs-Vorgänge zu akzeptieren. Im Gegenzug sollten die neuen Milliardäre sich nicht in die Politik einmischen.
Anders als andere Oligarchen, die sich dem Willen des neuen Machthabers anpassten oder sich – wie die politisch ebenfalls ambitionierten Milliardäre und Strippenzieher Beresowski und Grusinski – ins Ausland absetzten, schlug Chodorkowski die Warnungen in den Wind und liess sich von seinen eigenwilligen sozialen und politischen Aktivitäten nicht abbringen. Mit ein Grund für seine Verhaftung waren möglicherweise auch Pläne, das Yukos-Unternehmen oder Teile davon an ausländische Ölkonzerne zu verkaufen.
Weshalb ein zweiter Proess?
Chodorkwoski ist 2005 wegen angeblicher Steuerhinterziehungen von einem Moskauer Gericht zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden. Schon jenes Urteil galt weit herum als höchst willkürlich und als eine Art Raubzug von Kemlbürokraten, die nach neuen Pfründen schielten. Denn gleichzeitig mit dem Prozess gegen den Haupteigentümer (und dessen Geschäftspartner Platon Lebedew) wurde der hochrentable Yukos-Konzern rücksichtslos zerschlagen und dessen Hauptteile den mehrheitlich vom Kreml kontrollierten Konkurrenten Rosneft und Gasprom zugeschanzt.
Warum ist es nach der ersten Verurteilung vor fünf Jahren überhaupt zu einem zweiten Strafprozess gegen Chodorkowski gekommen? Diese Frage hat bisher niemand juristisch überzeugend beantworten können. Denn auch in Russland gilt grundsätzlich der Rechtsgrundsatz, dass niemand wegen der gleichen Tat zwei Mal verurteilt werden darf. Chodorkowski wird im zweiten Prozess hauptsächlich vorgeworfen, fünf Jahre lang Öl im Werte von 27 Milliarden Dollar von Zweigfirmen seines Yukos-Konzerns durch Preismanipulationen veruntreut und die Erträge „gewaschen“ zu haben. Warum das nicht mit seiner ersten Verurteilung zusammenhängen soll, bei der es um angebliche Steuerhinterziehungen durch den Yukos-Konzern ging, bleibt schleierhaft.
Die Unglaubwürdigkeit der zweiten Anklage wegen angeblicher Preismanipulationen zum Schaden des eigenen Konzerns haben während des Prozesses selbst hohe aktive oder ehemalige Regierungsfunktionäre bestätigt. In diesem Sinne äussersten sich jedenfalls die als Zeugen auftretenden Industrie-Minister Christenko, der frühere Wirtschaftsminister Gref (heute Chef der staatlich kontrollierten Sberbank) und auch der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident Kasjanow.
Als Gefangener an Statur gewonnen
Offenkundig aber war es Putin, der starke Mann in Russland, der diesen zweiten Prozess durchsetzte. Denn niemand glaubt, dass die heutige russische Justiz in einer politisch derart gewichtigen und weit herum beobachteten Angelegenheit unabhängig und ohne Direktiven der obersten politischen Führung entscheidet. Insofern ist das neue Urteil gegen Chodorkowski auch ein politisches Urteil über Putin und Medwedew und die Machtverhältnisse innerhalb dieses Tandems. Warum aber sollte Putin ein Interesse an einem solchen Spektakel haben, den ohnehin schlechten Ruf des russischen Rechtswesens zusätzlich zu beschädigen?
Darüber kann man länger spekulieren. Eine Rolle spielt wohl der Umstand, dass Chodorkowski ohne neue Verurteilung seine achtjährige Strafe im Jahr 2011 abgesessen hätte (die Untersuchungshaft eingerechnet) und deshalb freigelassen werden müsste. Das scheint Putin verhindern zu wollen, denn im kommenden Jahr beginnen gleichzeitig die Vorbereitungen für die Präsidentschftswahl 2012, bei der Putin wieder als Kandidat antreten könnte. Die Vorstellung, dass Chodorkowski als freier Bürger bei dieser Wahl dem Putin-Clan irgendwie gefährlich werden könnte, mutet zwar absurd an. Doch auszuschliessen sind solche neurotischen Reflexe im Umkreis der Kremlmächtigen keineswegs.
Richtig ist jedenfalls, dass Chodorkowski im Laufe seiner Gefangenschaft in der öffentlichen Wahrnehmung enorm an Statur gewonnen hat. Als ehemaliger Oligarch und Erdöl-Milliardär mag er in breiten Segmenten der russischen Bevölkerung nach wie vor herzlich verhasst sein. Doch in der russischen Intelligenzia und in politisch stärker interessierten Kreisen hat sich Chodorkowski mit seinen zahlreichen schriftlichen Diskussionsbeiträgen zu aktuellen Gesellschaftsfragen, seinen kritischen Analysen zum „System Putin“ und seiner scheinbar philosophischen Gelassenheit als Gefangener in einem politischen Prozess zweifellos erheblichen Respekt verschafft.
Putin setzt sich durch
In der Moskauer Machspitze dürfte die Entscheidung darüber, wie das Urteil im zweiten Chodorkowski-Prozess gefällt werden sollte, einiges Kopfzerbrechen verursacht haben. Manches spricht dafür, dass Präsident Medwedew, der selber Rechtswissenschaft gelehrt hat und bei jeder Gelegenheit mehr Rechtssicherheit und eine unabhängige Justiz predigt, eher einen Freispruch befürwortete. Der Richter hätte dies mit dem erwähnten Grundsatz, dass niemand für den gleichen Fall zweimal verurteilt werden darf, unschwer begründen können. Doch offenkundig hat sich mit dem am Montag vom Gericht verkündeten Schuldspruch die Meinung von Medwedews Mentor Putin durchgesetzt. Für Medwedews Glaubwürdigkeit als eifriger Mahner für mehr Rechtsstaatlichkeit in Russland ist das ein harter Schlag.
Wie lange bleibt Chodorkowski hinter Gittern?
Allerdings hat das Moskauer Gericht das gegen Chodorkowski im zweiten Prozess verhängte Strafmass noch nicht verkündet. Die Staatsanwaltschaft hat sechs zusätzliche Jahre Gefangenschaft nach Ablauf der ersten Frist von acht Jahren verlangt. Es ist nicht ganz auszuschliessen, dass die zweite Frist von den Richtern stark verkürzt wird, so dass Chodorkowski möglicherweise in ein oder zwei Jahren freikäme. Das würde zwar nach etwas mehr Milde aussehen. Die prinzipielle Farcenhaftigkeit dieses zweiten Chodorkowski-Prozesses aber wäre damit nicht beseitigt.
Gemäss dem byzantinischen Justiz-Ritual wird der Richter das Strafmass erst am Ende seiner Urteilsverkündung bekannt geben. Dass kann nach den Erfahrungen des ersten Prozesses mehrere Tage dauern. Man ist trotzdem gespannt darauf, wie lange Chodorkowski noch hinter Gittern bleiben soll.