Patricia Kopatchinskaja hat sich mit ihrer Geige, mit ihrem Können, ihrem queren Geist und ihrer ungestümen Lust am Musizieren endgültig an die Spitze hochgearbeitet, kompromisslos und mit dem absoluten Willen, einem heutigen Publikum unbedingt Zeitgenössisches zu präsentieren. Und andererseits die Stücke von früher mit dem Blick und Ohr von heute zu interpretieren. Nicht nur in Luzern, Bern und Berlin, sondern auf ausgedehnten Konzertreisen überall dort, wo sie ein neugieriges Publikum findet.
So wie jetzt einen Monat lang in Luzern.
Was bedeutet es, «Artist étoile» oder «in residence» zu sein. Nur eine Ehre? Oder auch das Privileg, ein mutigeres Programm zu spielen, weil man sich ja nicht nur mit einem einzigen Konzert präsentiert?
Patricia Kopatchinskaja: «In der Regel wird bei einer Residenz schon mehr Input erwartet, als bei einem Tournéekonzert. Und wenn man mir eine Residenz gibt, heisst das im Allgemeinen auch, dass Experimente durchaus erwartet werden.»
In Luzern spielen Sie auch Werke von Heinz Holliger. Ein Violinkonzert zum Beispiel, von dem sie beim Üben sagten, es sei sooooo schwer … Was ist denn das Schwierige an seiner Musik?
«Holliger bezeichnet sein Konzert als ‚gefährlich‘, es ist inspiriert durch den Musiker und Maler Louis Soutter, der an seiner Genialität zerbrach. Das Konzert bringt einen technisch und vor allem seelisch an Grenzen, es ist ‚borderline‘ ... Wie für die Oboe hat Holliger auch für die Geige neue Spielweisen erfunden, die man auf keinem Konservatorium erlernen konnte. Man muss mit seiner Musik auch seine physische Grammatik verinnerlichen.»
Welche Bedeutung hat Heinz Holliger für Sie?
«Holliger ist einer der ganz grossen Meister unserer Zeit, als umfassender Kenner der abendländischen Kultur, als Komponist, als Dirigent und als Interpret. Die Zusammenarbeit mit ihm ist anspruchsvoll, aber ungeheuer anregend und spannend.»
Das diesjährige Motto des Lucerne Festivals lautet «Identität» Was ist denn das Schweizerische an Holliger, aus Ihrer Sicht? Musikalisch und auch menschlich?
«Heinz Holliger ist wie Dürrenmatt. Hochkultiviert und voll Fantasie, aber auch bäurisch, man kann sich ihn gut am Jasstisch in der Dorfbeiz vorstellen, sein Berndeutsch kann sehr direkt werden.»
Und was ist das Moldawische an Ihnen? Und – mittlerweile – das Schweizerische? Wo ist Ihre Identität? In der Musik?
«Moldavien ist ein Agrarland, wir kennen keine höfische Verfeinerung. Die schweizerische und bernische Kultur, wie man sie bei Gotthelf, Dürrenmatt und Holliger findet, steht meiner Lebenswelt sehr nahe.»
Sie spielen viel, oft und gern zeitgenössische Musik. Warum tut sich aber das Publikum – immer noch – so schwer damit?
«Fragen Sie mich etwas Einfacheres. Ich kann es nicht verstehen, wir lesen ja auch nicht die Zeitung von gestern ...»
Worauf freuen Sie sich am meisten in Luzern?
«In Luzern kann ich neben Holliger zwei meiner Lieblingsstücke aufführen – die Geigenkonzerte von Bartok und Ligeti. Ich freue mich auf die Recitals mit der genialen Pianistin Polina Leschenko, mit dem Cellisten Jay Campbell und Anthony Romaniuk am Cembalo, mit Christoph Strotter und Jorge Sanchez-Chiong in einer musikalischen Installation und natürlich mit dem fantastischen Mahler Chamber Orchestra. Ein Höhepunkt für mich wird das inszenierte Nachtkonzert ‚Dies irae‘ sein, wo wir uns und den Musikbetrieb mit der heutigen existentiellen Situation konfrontieren.»
Besuchen Sie auch andere Konzerte? Welche?
«Ich besuche immer wieder Konzerte, ich war zum Beispiel diesen Sommer im Ojai-Festival in Kalifornien und hörte amerikanische Avantgarde wie das ‚conduction‘ von einem der phänomenalsten Musiker unseres Planeten, Tyshawn Sorey, die unglaubliche Flötistin Claire Chase und Ihr ICE Ensemble aus New York. Diese Leute leben und retten die Zukunft der Musik. In Luzern werde ich sehr beschäftigt sein, ob es für Konzertbesuche reicht, werden wir sehen.»
Konzerte:
11., 20., 23., 26., 27. August, 2., 9. September