Sommer 2002. Der erste Jahrestag von 9/11 rückt näher, und die Redaktion in Zürich wünscht sich von ihren beiden Korrespondenten in den USA ein Interview mit dem früheren Aussenminister Henry Kissinger. Einmal leer geschluckt, denn Leute vom Kaliber Kissingers warten erfahrungsgemäss nicht darauf, sich mit unbekannten Schweizer Journalisten zu unterhalten. Trotzdem, nach einem ersten Austausch höflicher Mails, signalisiert sein Büro in New York prinzipielle Bereitschaft zu einem Gespräch.
Jetzt gilt es, behutsam ein Zeitfenster aufzustossen, um mit Amerikas wohl berühmtestem Aussenpolitiker vor dem 11. September „zu einem Zeitpunkt und an einem Ort seiner Wahl“ (unser Angebot) zu sprechen. In der Folge geht das Zeitfenster langsam zu und eine passende Woche scheint gefunden, als aus Kissingers Umfeld, ohne nähere Angabe von Gründen, die Botschaft eintrifft, das geplante Interview könne nicht stattfinden. Unsere (unbewiesene) Vermutung: Wir haben mit seinen Assistenten nie über Geld gesprochen. Eine Agentur, die Henry Kissinger als Referenten für öffentliche Anlässe vermittelt, listet auf ihrer Website sein Honorar mit „$ 50 001 und mehr“ auf.
Die Absage stürzt uns in Verlegenheit, denn der Jahrestag rückt unerbittlich näher. Ein valabler Ersatz ist gefragt, und der findet sich schliesslich, dank Kollege Walter Niederberger, in der Person von Richard C. Holbrooke, den wir an einem Dienstagmorgen, acht Tage vor dem 11. September 2002, in seinem Büro in Manhattan sprechen können. Holbrooke ist in Eile, ein weiterer Termin drängt. Unsere Fragen beantwortet er, der selbst einst gerne Journalist geworden wäre und mit einer Autorin verheiratet ist, routiniert, professionell und praktisch druckreif. Indes schweift der Blick von seinem Büro aus auf den nahen Central Park.
Bei der Grossmutter in Zürich
Am Ende des Gesprächs können wir uns die Frage nicht verkneifen, weshalb er, anders als Henry Kissinger, zwei Journalisten des in Amerika nicht eben bekannten „Tages-Anzeigers“ innert so kurzer Frist und ohne viel Aufhebens empfangen habe. „Weil ich den ‚Tages-Anzeiger’ kenne“, antwortet er zu unserem Erstaunen. Woher? Er sei noch als Kind gelegentlich bei seiner Grossmutter mütterlicherseits in Zürich in den Ferien gewesen, und die habe in der Nähe der damaligen „Tagi“-Druckerei gewohnt. „Sie las aber die NZZ“, fügt Holbrooke bei.
Überhaupt hege er der Schweiz gegenüber grosse Sympathien, ja vielleicht mit der Ausnahe von Zug. Und wieso ausgerechnet das, fragt jener von uns zurück, der selbst Zuger ist. Seine Grossmutter habe ihn einmal nach Zug in ein Ferienlager geschickt, erzählt Holbrooke, und bis heute erinnere er sich, wie sie dort hätten Toiletten putzen müssen und wie rau das Schweizer Toilettenpapier gewesen sei. Wir verabschieden uns kurz vor Mittag amüsiert und dankbar.
Am 11. September 2002 erscheint das Interview mit Richard C. Holbrooke im „Tages-Anzeiger“ unter dem Titel „Ein neues Gefühl der Verletzlichkeit“ – eine Diagnose der Veränderungen in Amerika seit den Anschlägen in New York und Washington ein Jahr zuvor. Veränderungen, welche die Nation laut Holbrooke eher zu Zeiten des Kalten Krieges erwartet hatte, die aber nie eintraten: „Letztes Jahr aber erfolgte dieser Stich plötzlich und unvermittelt ins Herz dieser grossartigen Stadt New York.“
Für den Irak-Krieg, aber mit Uno-Unterstützung
Wie die Mehrheit der Amerikaner befürwortet der Diplomat, der mehrmals erfolglos für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden ist, einen Angriff auf den Irak Saddam Husseins, „unter der klaren Bedingung allerdings, dass die USA von Europa unterstützt werden“ und der Uno-Sicherheitsrat eine Militäraktion Amerikas absegnet. Holbrooke äussert Verständnis für die Vorbehalte der Europäer bei George W. Bushs Krieg gegen den Terrorismus: „Die USA sind aus ihrer Tradition heraus stets aggressiver aufgetreten als die Europäer. Die EU ist einfach nicht derart geschlossen wie die USA, und vor allem ist sie kein militärisches Bündnis.“
Richard C. Holbrooke, den sie auch „The Bulldozer“ oder „Raging Bull“ nannten, sollte bis zu seinem Tod acht Jahre später ein immens engagierter Diplomat bleiben. Als er im Spital in New York für eine erste 21-stündige, am Ende aber erfolglose Operation eingeschläfert wurde, hat er Familienangehörigen zufolge zu seinem in Pakistan geborenen Chirurgen gesagt: „Ihr müsst diesen Krieg in Afghanistan stoppen.“
Eben dieser Tage wollte sich Präsident Obama mit seinen Spitzenberatern treffen, um Amerikas Strategie in Afghanistan zu evaluieren. Der Plan des Weissen Hauses zielt darauf ab, dank der Investition von Milliarden von Dollar in die afghanische Zivilgesellschaft die Wirtschaft anzukurbeln, in Kabul eine integere und überlebensfähige Regierung zu installieren sowie ab Juli 2011 mit dem Abzug der über 100 000 Mann zählenden US-Truppen zu beginnen, der Ende 2014 beendet sein soll. Holbrookes Tod dürfte nun die Umsetzung dieser Strategie erschweren. Der Af-Pak-Sondergesandte hatte aus seiner Skepsis gegenüber Hamid Karzai nie einen Hehl gemacht und den afghanischen Präsidenten wiederholt unmissverständlich aufgefordert, die Korruption im Lande zu bekämpfen und die Bevölkerung besser zu schützen. Karzai soll einst sogar so wütend geworden sein, dass er seinen Wollhut nach Holbrooke schmiss.
Er wäre gerne Aussenminister geworden
Barack Obama indes pries Richard C. Holbrooke als „einen wahren Giganten amerikanischer Aussenpolitik, der Amerika stärker, sicherer und angesehener gemacht hat. Er war eine wahrhaft einzigartige Figur, die für ihre unermüdliche Diplomatie, ihre Vaterlandsliebe und die Suche nach Frieden in Erinnerung bleiben wird.“ Nur eines ist Richard C. Holbrooke, der unter Bill Clinton auch amerikanischer Uno-Botschafter war, nie gelungen. Der Sohn jüdischer Immigranten wäre fürs Leben gern Aussenminister geworden und hätte das wohl auch geschafft, hätte 2000 das Oberste Gericht in Washington DC nach der Nachzählung der Stimmen in Florida nicht George W. Bush, sondern Al Gore zum Präsidenten gekürt und wäre 2008 nicht der Demokrat Barack Obama, sondern dessen Parteikollegin Hillary Clinton ins Weisse Haus gewählt worden. Holbrooke hatte im Wahlkampfs als Clintons aussenpolitischer Berater fungiert.
„Selbst seine engsten Freunde sahen Mr. Holbrookes zahlreichen Gaben – intellektueller Scharfsinn, Verhandlungsgeschick, direkte Erfahrung mit einigen der grössten aussenpolitischen Problemen seiner Generation – gelegentlich als Nachteil. Für einige schlug seine Brillanz in Arroganz, seine Erfahrung in Besserwissertum um“, schreibt die „Washington Post“ im Nekrolog über ihren früheren Kolumnisten Richard C. Holbrooke. Und das Blatt zitiert Vizepräsident Joe Biden, der Holbrooke nach dessen Ernennung zum Af-Pak-Sondergesandten gegenüber Barack Obama wie folgt beschrieb: „Er ist der egoistischste Hurensohn, den ich je getroffen habe. Aber ist wahrscheinlich der richtige Kerl für den Job.“ Der richtige Kerl für den Job: Das hört sich fast an wie ein Grabspruch.