Die Alhambra - ein Sehnsuchtsort der europäischen Kultur - wird heute von täglich durchschnittlich 6000 Menschen besucht. Einst als Repräsentationsräume für die islamische Aristokratie gebaut, führt die Demokratisierung des Reisens zu völlig neuen Formen der Selbstdarstellung.
Alhambra als Sehnsuchtsort
Als Gymnasiast bewunderte ich die Bilder des Nasriden-Palastes von der Alhambra in der Zeitschrift "Atlantis". Ich träumte mich in diesen architektonischen Garten Eden, der sich draussen in herrlichen Gartenanlagen fortsetzte, wandelte als Prinz durch die Gemächer mit all den schönen Prinzessinnen und ihren erotischen Geheimnissen. Es war auch die Zeit, da ich die Diogenes-Ausgabe mit den Geschichten von 1001 Nacht verschlang. Später als Kunstgeschichtestudent schwärmte ich von den kühlen Räumen mit dem Geplätscher aus hundert Brunnen, welche die Stille und Leere erst fassbar machen. Welch ein Triumph der Fantasie!
Die regulierte Realität
Kürzlich dann - als 75-Jähriger - der erste Besuch der wirklichen Alhambra. Ich war einer von 6000, die sich täglich durch dieses Traumland knipsen. Ein logistischer Albtraum für Denkmalpfleger und Hüter des einzigartigen Kulturerbes. Eintrittskarten müssen Monate im Voraus bestellt werden. Auf jede ist die genaue Besuchszeit aufgedruckt und wehe, wenn man sie um mehr als 10 Minuten verpasst. Das passiert einem allerdings kaum, da bereits 20 Minuten vor Einlass eine über 100 Meter lange Schlange in der prallen Sonne daran erinnert, dass man etwas Wichtiges verpassen könnte (als wir den Palast eineinhalb Stunden später verlassen, ist die Schlange bereits doppelt so lang).
Digitale Besitzergreifung des Schönen
Sind dann alle einer Schicht mal drinnen, ergreift die Leute seltsames Fieber, wobei diagnostisch drei verschiedenartige Zustände zu unterscheiden sind. Am gemütlichsten nehmen es diejenigen, welche einen weissen Knochen ans Ohr halten aus dem ihnen jede Eigen- und Besonderheit der dargebotenen Kunst erklärt wird. Sie stehen einem tief versunken mit verzückten Gesichtern besonders gern im Wege. Schon bunter treiben es die stolzen Besitzer eines Handys oder einer winzigen Digitalkamera, die von einer Ecke in die andere springen, ins Display starren und zitternd vor Erregung wie verrückt auf den Auslöser drücken. Natürlich stehen einem die ganz besonders oft im Bild, wenn man dann selbst einmal eines machen will.
Schliesslich die wirklich Avancierten, meist jung aber auch ganze Familien oder bestandene Männer und Frauen sind unter ihnen. Sie arbeiten ausschliesslich mit dem Smartphone und haben sonderbare Vorrichtungen, um dieses möglichst weit weg von sich in die Luft zu halten. Sie suchen sich die schönsten Hintergründe und lächeln verliebt in den Bildschirm, auf dem ihnen ihr eigenes Ich gross entgegenlächelt. Wie sie abdrücken, ist mir noch nicht ganz klar geworden. Es gibt auch verschworene Grüppchen, etwa drei Japanerinnen, die sich im Turnus gegenseitig fotografieren, wobei die Fotografierte jeweils das Victory-Zeichen macht. Sie arbeiten hochkonzentriert, haben Augen und Linsen einzig für sich und beuten jeden Raum sorgfältig auf seine Selfishkeit aus. Und alles ist wahrscheinlich im gleichen Moment auch schon ins Internet gestellt.
Die Demokratisierung des Reisens und der Selbstdarstellung
Die noblen Nasriden schufen sich eine fantastische Kulisse zur Selbstdarstellung ihres Lebens und ihrer selbst. Wie viele waren es mit Gesinde? Vielleicht 200 oder 300. Heute fliegen und fahren per Auto jeden Tag 6000 nach Granada, um dort die Alhambra zu besuchen und mehrere Dutzend Selfies zu schiessen. Die Botschaft ist: Ich bin und ich bin wer, auch wenn ich kein islamischer Fürst bin.
Die Demokratisierung des Reisens – gegen die man vernünftigerweise als Nichtaristokrat nichts haben kann - hat zu einem Massentourismus geführt, dessen Folgen für das kulturelle Erbe und die Umwelt völlig verkannt werden. Ich erinnere mich in San Marco in Venedig noch im Jahre 1967 an Pfingsten mit vielleicht 50 anderen Besuchern in der Kirche herum flaniert zu sein, unbekümmert fotografierend, sogar gelegentlich mit Blitz. Heute stehen die Touristen über den ganzen Markusplatz an, - in Achterkolonne. Geradezu absurde Formen gibt’s in Amerika, wo vor dem Aquarium in Chicago drei Stunden nach Öffnung des Museums noch eine kilometerlange Schlange im Regen steht, natürlich mit Kind und Kegel. And there is a market: Dutzende von Buden und Imbissständen profitieren vom Überfluss dieses quengelnden Beute-Biotops.
Verwertete Alhambra
Zurück zur Alhambra: Nie waren wir armen Seelen besser dokumentiert als heute. Gehen wir davon aus, dass von den 6000 Leuten je 100 Fotos gemacht werden so ergibt das pro Tag 600'000 Fotos oder rund 22 Millionen Fotos pro Jahr. Ein Fortschritt ist gewiss, dass diese nicht alle mehr auf chemischem Weg aufbereitet werden müssen. Leider taugen sie nicht als historisches Material, da zuviel, zu narzisstisch und in einigen Jahren sowieso nicht mehr lesbar. Und wenig bekömmlich für Mensch und Natur ist, dass hinter diesen Selfies tausende von Flug-, Bus- und Autobewegungen stehen, Tendenz steigend: Die davon profitierenden Firmen wollen wachsen. Ach ja, wir verdanken unseren Wohlstand diesem ständig schneller drehenden Rad. Wer käme noch zur Alhambra, wenn nicht immer mehr Flugzeuge und Autos gebaut werden müssten, von Menschen die anständig verdienen und sich die Alhambra leisten können.