Die eskalierenden Konflikte im Irak zwischen proiranischen und antiiranischen Gruppen sind auch ein Streit um die schiitische religiöse Autoritätsordnung im Lande. Dabei agiert Iran als Schutzmacht eines auf Autorität (mardscha῾) bezogenen Lehramtes.
Irak: ein schiitischer OrdnungskonfliktMuqtada al-Sadr, selbst kein Mardscha῾, sieht hingegen in der Schia den Garanten einer nationalreligiösen Ordnung. Seinem Populismus gelingt es, der massiven antipolitischen Staatskritik von Teilen der Bevölkerung eine Stimme zu geben und so der Schia zu neuer nationaler Legitimität zu verhelfen.
Es ist ein Konflikt zwischen zwei sich antagonistisch gegenüberstehenden Auffassungen über die richtige Ordnung im Irak: auf der einen Seite finden sich jene Vorstellungswelten, nach denen die Ordnung von Religion, Gesellschaft und Staat durch einen etablierten Klerus schiitischer Gelehrsamkeit abgebildet und gesichert werden soll. Auf der anderen Seite stehen jene schiitischen Meinungsführer, die in der Schia den Garanten einer gesamtgesellschaftlichen Ordnung sehen, in der auch sunnitische Interessen und sogar säkulare Vorstellungen einen Platz haben sollen. Die Bestimmung der Schia als Garantiemacht einer nationalen Integration übersetzt sich in der politischen Öffentlichkeit als Forderung nach einer Abschaffung der konfessionellen Repräsentationsordnung, die nach dem Regimewechsel durch die US-amerikanische und britische Intervention 2003 vorherrschend wurde. Diese Differenz zwischen einer älteren, etablierten Schia und einer jüngeren, systemkritischen Schia überlagert früheren Formen der Unterscheidung innerhalb der schiitischen Tradition vor allem jene, die durch die Islamische Revolution in Iran 1979 die politische Ordnung des Schiitentums geprägt hatte: die Unterscheidung zwischen einer «schwarzen», quietistischen Schia des religiösen Establishments, und einer «roten» revolutionären Schia einer religiösen Laienbewegung.
Die ältere Schia
Für den schiitischen Klerus oder besser für die schiitische Geistlichkeit (ruhaniya) gibt es keine kirchenähnliche Gesamtinstitution. Der Klerus besteht allein aufgrund einer Traditionsbildung und Traditionsordnung, die bis in die frühe Neuzeit zurückreichen und die die Zugehörigkeit wie einen sozialen Stand erscheinen lassen. Man könnte sich den Klerus so vorstellen wie den Professorenstand des 19. Jahrhunderts an deutschsprachigen Universitäten. Ein Klerikaler hat damit keine besondere Funktion in der Religionsordnung. Selbst hochrangige Autoritäten wie der iranische Revolutionsführer Khamenei können nicht mit Kirchenoberhäuptern gleichgesetzt werden. Sie sind eher so etwas wie renommierte Professoren. Die in Iran etablierte «Herrschaft der Geistlichkeit» ist eigentlich zu verstehen als die komplette Kontrolle der sozialen und politischen Wirklichkeit durch einen theologischen Professorenstand.
Das Besondere an den theologischen Professoren allerdings ist, dass ihre Autorität nicht allein von ihrer Wissenschaftlichkeit abhängt, sondern vor allem von der Anerkennung durch eine Gemeinde. Sie sind also an sich nicht staatlich eingesetzt. In dem Maße, wie die Gemeinde die Autorität eines Professors anerkennt, gewinnt dieser an Legitimität. Nicht selten ist dabei die ihn tragende Institution von finanziellen Zuweisungen abhängig, die die Mitglieder der Gemeinde tätigen.
Ein schiitischer Gelehrter gilt als «Instanz der Traditionsbindung» (mardscha῾ at-taqlid), sofern seine Autorität hinreichend praktische Anerkennung einer solchen Gemeinde findet. Je grösser das soziale Feld der Anerkennung ist, desto mehr Gewicht hat seine Autorität. Etwa die Hälfte der heute 86 als Mardscha῾ anerkannten schiitischen Gelehrten lebt in Iran, ein Viertel im Irak. Durch schulische Vermittlung ihres Wissens erfüllt der Mardscha῾ zudem die Funktion eines schiitischen «Lehramts». Dazu bedient sich ein Mardschaʿ einer höheren Bildungseinrichtung, die seit der frühen Neuzeit «Wissenszirkel» (hawza ʿilmiya) genannt wird. Zur Ausübung seiner Autoritätsfunktion nutzt der Mardschaʿ üblicherweise ein «Büro», das wie der soziale Knotenpunkt seines Netzwerks wirkt.
Der letzte gemeinschiitisch anerkannte Mardscha῾ war der iranische Ayatollah Hossein Borujerdi (gest. 1961). Heute werden im Irak 24 «Professoren» als Mardschaʿ anerkannt, 20 von ihnen wirken in Nedschef, je zwei in Kerbela und Bagdad. Die bekanntesten sind Muhammad al-Khaqani, Muhammad Saʿid al-Hakim, ʿAli al-Sistani und Muhammad al-Fayyad, alle in Nedschef, sowie Husain al-Sadr in Bagdad. In den Professorenkreisen ist es üblich, durch Heirat untereinander enge Familienbande zu knüpfen. So haben Angehörige der weit verzweigten Sadr-Familie in die Familien von Borujerdi, Khomeini, Tabataba’i und Khatami eingeheiratet. Autoritäten, die in Iran wirken und zum Teil arabisch-irakischer Abstammung sind, spielen in der irakischen Religionslandschaft eine nicht minder wichtige Rolle. Zu ihnen zählt Ayatollah Kazim al-Ha’eri, der in Qum residiert und der jüngst von sich reden machte, als er am 29. August 2022 aus Alters- und Krankheitsgründen seinen Rücktritt vom Amt des Mardschaʿ und die Schließung seines Büros bekanntgab. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass ein Mardschaʿ von seinem Amt zurücktrat. Er rief dazu auf, dem iranischen Revolutionsführer ʿAli Khamenei zu folgen, der «die beste Person für die Führung unseres Volkes und die Beseitigung der Aggressoren» sei.
Die jüngere Schia
Auf der anderen Seite hat sich im Rahmen der innergesellschaftlichen Konflikte in Irak eine neue jüngere Vorstellung über die Schia herausgebildet. Im Kern handelt es sich um eine neue nationalreligiöse Interpretation der Schia, der sich auch Menschen zugehörig fühlen, deren Primat auf einer säkularen gesellschaftlichen Ordnung beruht. Diese jüngere Schia gründet nicht mehr auf den Hierarchien islamischer Gelehrsamkeit, sondern orientiert sich vielmehr programmatisch an einen sehr weltlichen Auftrag der religiösen Ordnung, nämlich soziale Gerechtigkeit aus einem islamischen System heraus zu etablieren und zugleich den Islam als legitime nationale Ordnung zu interpretieren. Historisch ist diese Interpretation der Schia eng mit jenen ideologischen islamischen Vorstellungen verbunden, die noch heute von den nationalreligiösen Muslimbrüdern vertreten werden. Für diese Gruppierungen stellt der Klerus zwar eine bedeutsame Institution der schiitischen Tradition dar und wird auch als solche anerkannt, zugleich aber wird die Legitimität des Klerus als Oberhirte einer gesamtgesellschaftlichen Ordnung strikt abgelehnt. Eines der politischen Sammelbecken war die 1958 von Muhammad Baqir al-Sadr, dem 1980 ermordeten Schwiegervater von Muqtada al-Sadr, mitbegründete Islamische Daʿwa-Partei.
Die jüngere Schia hatte maßgeblich unter der Verfolgung durch das Regime von Saddam Hussein zu leiden. Diese traf auch die weit verzweigte Sadr-Familie. Berühmte Mitglieder dieser Familie wurden von dem Regime ermordet, so auch der Vater von Muqtada al-Sadr. Diese Verfolgungsgeschichte, die auch mit der in der Daʿwa-Partei zusammengeschlossenen Opposition verknüpft war, bildet zusammen mit dem ideologischen Gerüst der Vordenker aus der Sadr-Familie, vor allen Dingen Muhammad Baqir as-Sadr, und der Erinnerung an die kriegerischen Auseinandersetzungen mit US-amerikanischen und britischen Truppen 2003–2008 den Fundus, aus dem sich die religiösen und politischen Vorstellungen der Sadristen speisen.
Zwischenwelten
Muqtada al-Sadr Ist kein Laie im engeren Sinne, aber auch kein Mardschaʿ. Er hatte schon als 14-Jähriger eine intensive religiöse Ausbildung am Lehramt seines Vaters Muhammad Sadiq al-Sadr begonnen, musste diese aber nach dem schiitischen Aufstand von 1991 unterbrechen, weil er zusammen mit seinem Vater und dessen Brüdern von dem Regime ins Gefängnis gesteckt worden war. Nach der Ermordung seines Vaters im Februar 1999 wurde er in dem noch Saddam City genannten Stadtteil von Bagdad zu einer zentralen politischen Figur. Bewaffnete Verbände, die er vor Ort einrichten konnte, übernahmen in dem Stadtteil zum Teil Polizeigewalt; allerdings konnte das Regime, die Kontrolle über Saddam City 2002 zurückgewinnen. Im Kontext der US-amerikanischen und britischen Invasion floh Sadr nach Qom in Iran und kehrte 2003 nach Bagdad in das bald nach seinem Vater Sadr City benannte Viertel zurück.
Schon damals drohte eine Eskalation zwischen der älteren und der jüngeren Schia. Im Juli 2003 wurde der hochgeachtete Ayatollah Abdalmadschid al-Khu᾽i (al-Khoei) in Nedschef ermordet. Die Brutalität des Vorgehens seiner Mörder lässt erahnen, dass der Konflikt sehr viel tiefer reichte als eine persönliche Fehde. Zwar dementierte Sadr jegliche Beteiligung an dem Mord, doch war schon bald klar, dass der Mord von Leuten verübt wurde, die sich in Sadrs Gefolge sahen.
Militanz
Beide, die jüngere wie die ältere Schia, verfügen über teils hochgerüstete Milizen. Dabei machen die Sadristen geltend, dass ihre militanten Formationen zum Teil schon unter dem Regime von Saddam Hussein bestanden und dass sie vor allem in Gestalt der im Juli 2003 gegründeten al Mahdi-Armee maßgeblich an den Kämpfen gegen die amerikanischen und britischen Besatzungstruppen 2004–2008 verwickelt waren. Mit der Eroberung des von den Sadisten kontrollierten Stadtteils Sadr City in Bagdad durch amerikanische Truppen und Verbände der irakischen Armee im Mai 2008 löste Muqtada al-Sadr die al Mahdi-Armee formal auf. Allerdings blieben die fast 10‘000 Waffenträger in der Stadt und konnten je nach Umständen neu mobilisiert werden. Dies war 2014 der Fall, als der sogenannte Islamische Staat seine Offensive gegen mittelirakische Städte startete. Sadr mobilisierte seine Einheiten neu als Friedenskompanien, die zunächst auch in die gleichzeitig etablierten Milizen der Volksmobilisationskräfte (Haschd) eingegliedert wurden. Da diese aber immer stärker zum Organ der Politik der iranischen Revolutionsgarden im Irak wurden, formierten sich die Friedenskompanien schon bald als eigenständige militärische Einheiten der Sadristen.
In den Volksmobilisationskräften sind etwa 50 Milizen versammelt, die fast 70 militärische Formationen bilden und formal der irakischen Regierung unterstellt sind. Der wichtigste Akteur sind die Badr-Brigaden, ursprünglich der militärische Flügel der proiranischen Klerikergemeinschaft des Obersten Rats für die islamische Revolution im Irak, der später in Islamischer Oberster Rat im Irak umbenannt wurde. Heute stellt die Badr-Organisation eine eigenständige politische und militärische Kraft dar, die in enger Allianz mit den iranischen Revolutionsgarden operiert und eine ähnliche Funktion erfüllen möchte wie Hisbollah in Libanon oder Ansar Allah (Huthi) im Jemen.
Allerdings ist auch hier zu bedenken, dass die irantreuen Milizen die Rückendeckung eines großen Teils des schiitischen Klerus in Irak genießen, selbst aber nicht unbedingt dem Befehl eines Klerikers unterstehen. Bei den großen proiranischen Milizen wie Kata᾽ib Hisbollah, Kata᾽ib Sayyid al-Schuhada᾽, Kata᾽ib al-Imam Ali und Asa᾽ib Ahl al-Haqq handelt es sich im Kern um bewaffnete Laienverbände, die loyal zu den islamischen Revolutionsgarden stehen, bisweilen aber auch mit einer eigenen Agenda operieren. In den gegenwärtigen Auseinandersetzungen in Bagdad und Basra spielen vor allem die «Bünde der Rechtschaffenden» (Asa᾽ib Ahl al-Haqq) eine prominente Rolle. Ihr politischer Flügel wird von dem als Geologen ausgebildeten Kommandanten Qays al-Chasʿali (Khazali), der 2006 die Bünde als Abspaltung von Sadrs al-Mahdi-Armee ins Leben rief, vertreten, militärisch unterstehen sie zwischenzeitlich wohl ganz dem Kommando iranischer Revolutionsgarden.
Grenzen
Derzeit läuft alles darauf hinaus, dass sich eine antipolitische Opposition bildet, die dem Führungsanspruch von Sadr Stimme und Ausdruck verleiht. Diese antipolitische Opposition hatte ihre Macht schon in den Revolten des Oktobers 2019 bewiesen. In dieser sogenannten Oktoberrevolution formierte sich unter Oppositionellen der Konsens, dass die politische Ordnung nicht mehr auf einer konfessionellen Repräsentation zu beruhen habe, sondern auf einem direkten Gefüge von Volk und Staat. Die Oppositionellen dachten sich den Staat als bürokratische Einheit, die verwaltungstechnisch zu agieren habe und die entweder einer direkten politischen Kontrolle durch die Bevölkerung unterstellt oder, und das war sicherlich eine lange Zeit die Mehrheitsmeinung, die durch einen Starken Mann vertreten werden sollte. Ob sich die Mehrheit der „Oktobristen“, die die Revolten von 2019 getragen und gestaltet haben, mehrheitlich hinter Sadr sammeln, ist keineswegs ausgemacht.
Diesem Grundmuster entsprechend propagierte Sadr die Schia als einen legitimen Ordnungsrahmen der Nation, in den sich nicht nur schiitische Traditionen, sondern auch sunnitische, jesidische, christliche und säkulare Traditionen einfügen sollten. Die Nation gerät so zu einer normativen Ordnung, die durch die Schia zu garantieren sei und die gleichermaßen konfessionelle Grenzen als politische Aussage ablehnte. Dem widerspricht jedoch nicht nur die auf die iranische Staatsführung ausgerichtete Schia, sondern auch jene schiitische Tradition, die endzeitliche Erwartungen mit der Wiederkehr des Mahdi aus der Verborgenheit verknüpft. Am deutlichsten artikulierte hier das Umfeld der Asa᾽ib Ahl al-Haqq diese endzeitlichen Erwartungen.
Folgen
Es wäre also verkürzt, den Konflikt im Irak als einen Konflikt zwischen zwei Fraktionen der Schia zu beschreiben. Das Spektrum schiitischer Politik und schiitischer Gelehrsamkeit ist sehr viel breiter gefächert und umfasst in seinen Polen Positionen, die sich entweder als radikale nationalreligiöse Ausrichtung oder als systemkonforme Zugehörigkeit zur iranischen Religionsordnung bestimmen lassen. Daneben agieren endzeitlich orientierte Gemeinschaften, quietistische Gruppen, nationalkonservative Parteien und gemäßigt nationalreligiöse Verbände. Die «Schiitizität» der Schia ist so keineswegs unumstritten.
Iran aber will den Irak seiner durch die Revolutionsgarden bestimmten Hegemonie unterstellen und hierzu auch die religiöse Machtbasis kontrollieren. Dazu ist eine Konfliktordnung funktional, die der im Jemen, in Libanon, ja Syrien ähnelt. Es zeigt sich einmal mehr, dass der von den islamischen Revolutionsgarden geförderte Aufbau eine «Achse des islamischen Widerstandes» auch die Funktion hat, die duale Ordnung in Iran gefügig zu machen. Man muss sich daran erinnern, dass in Iran durch die islamische Verfassung eine duale Ordnung entstanden war, in der zwar die Letztverfügung durch das islamische Revolutionssystem bestimmt war, die aber der iranischen Regierung hinreichend Spielräume ließ, eine von der Revolutionsordnung unabhängige Politik zu betreiben. Im Irak hat sich hingegen dieses duale System in anderer Weise festgesetzt. Hier hat die Ordnung der islamischen Revolution (das heißt der Revolutionsgarden) eine Deutungshoheit erlangt, die deutlich die Macht der Regierung und des Parlamentes beschränkt. So gibt es zwar auch eine duale Ordnung, die aber nicht in gleicher Weise austariert ist wie die in Iran. Dies zeigt sich auch darin, dass die antiiranische schiitische Opposition versucht, durch eine nationale Einklammerung des Irak die Wirkungsmächtigkeit der iranisch dominierten Ordnung zu neutralisieren.
Russische Erwartungen
Die politische Konfliktlandschaft im Irak ist allerdings noch durch einen weiteren Faktor geprägt. Irans eben erneuerte langfristige Allianz mit Russland bettet die innerirakischen Auseinandersetzungen in einen breiteren Kontext ein. Die russische Strategie, Iran zum regionalen Player seiner imperialen Politik zu machen, weist darauf hin, dass Russland von Iran weit mehr erhofft als bloß die Teilhabe an einem gegen den Westen gerichteten Zweckbündnis. Russland erwartet von Iran die Mitwirkung an einer gegen die westliche Sanktionspolitik gerichteten Allianz. Mag sein, dass die iranische Regierung in Zukunft verstärkt die russische Karte spielen wird, um sich so aus der Umklammerung durch das System der islamischen Revolutionsgarden zu befreien. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass die Revolutionsgarden auf die Machtposition verzichten werden, die sie seit Jahrzehnten verwalten.