Nur etwas mehr als einen Monat ist es her, dass das Schauspielhaus Zürich seine neue Ära mit einem Reigen von acht Stücken eröffnete, die danach auch ins Repertoire Einlass fanden. Es waren Übernahmen älterer Produktionen, die die künftigen Hausregisseur*innen (das Gender-Sternchen ist jetzt Pflicht) mit nach Zürich gebracht hatten. Das Vorgehen machte durchaus Sinn, braucht doch ein neues Leitungsteam Zeit, bis es im eigenen Haus angekommen ist und alle Beteiligten sich mit den veränderten Bedingungen vertraut gemacht haben.
Unterschiede allüberall
Doch nun ist die Phase der Eingewöhnung vorbei. Am vergangenen Freitag hat Hausregisseur Christopher Rüping mit der Adaptation von Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ seine erste für Zürich erarbeitete Inszenierung vorgelegt, und es darf gefragt werden, was aus den hochfliegenden Plänen der neuen Truppe geworden ist.
Eine Verjüngung von Ensemble und Publikum hatten die Co-Intendanten Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann in Aussicht gestellt, eine Internationalisierung der Inhalte, eine Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen sowie eine Interaktion mit der Stadt, wie es sie bisher nicht gegeben habe. „Den Unterschied“, so hiess es in der Medienmitteilung vom 5. Juni 2019, „werden Sie nicht nur im Zuschauerraum erleben, sondern auch im Café, in der Badi, in Ausstellungen, Schulen, in den Medien, den Diskursen der Stadt.“
Zweisprachige Spielpläne
Nun, einige der Versprechen wurden in der Tat eingelöst. Nicht nur das Foyer am Pfauen kommt nun neu, hell und ein wenig kühl daher, sondern auch Regie und Ensemble wurden rundum erneuert und verjüngt, was sich an den Geburtsdaten der Ensemblemitglieder unschwer ablesen lässt. Ferner ist das Haus internationaler geworden, was sich daran zeigt, dass manche Darsteller*innen kein Deutsch können und die Spielpläne konsequent zweisprachig daherkommen. Auch formal scheint von Tanz über Gesang und Performance bis hin zum klassischen Sprechtheater alles vortreten, was dem Menschen an Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung steht.
Ob sich dabei auch das Publikum verändert und die Interaktion mit der Stadt in Gang kommt, muss sich indes erst noch weisen. Glaubt man allerdings den beiden prominenten Zürcher Theaterkritikerinnen, dann ist in Zürich eine neue glanzvolle Theaterära angebrochen, die alles Bisherige grau und verstaubt erscheinen lässt. Dass man einst auch Barbara Freys Intendanz ähnlich frenetisch begrüsste, scheint in Vergessenheit geraten zu sein.
Romanstoffe anstelle von Theaterstücken
Mittlerweile habe auch ich mich auf das Neue eingelassen, musste dabei aber erst mal feststellen, dass die Neuen auf einige altbekannte Unsitten offenbar nicht verzichten wollen. Dazu gehören für mich die immer gleichen, störenden Video-Einspielungen, der, wie es scheint, unverzichtbare Einsatz zeitgenössischer Rock-, Pop-, Rap- oder was auch immer -Musik und schliesslich und vor allem der Verzicht auf die Inszenierung von Theaterstücken zu Gunsten von Romanstoffen, die mal mehr, häufig aber weniger für die Bühne geeignet sind. Letzteres lässt sich anhand von zwei Aufführungen exemplarisch erkennen. Es sind dies Miranda Julys „Der erste fiese Typ“ und „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck, beide in der Bearbeitung von Christopher Rüping.
Die Inszenierungen sind insofern interessant, als die Adaptation des Romanstoffs im einen Fall funktioniert, im andern jedoch weit hinter der Vorlage zurückbleibt. Für den 2015 erschienenen Roman der amerikanischen Performance-Künstlerin Miranda July entwickelte der Regisseur ein Verfahren, das ich ausgesprochen überzeugend fand. Er behielt den Roman als äusseren Rahmen bei, projizierte Textpassagen auf zwei seitlich von der Bühne angebrachte Monitore und liess die beiden Schauspielerinnen mal als Figuren aus einem Roman, mal als Personen eines Stücks agieren, in den brillantesten Augenblicken des Abends als beides zugleich. Den Auftritt der singenden und tanzenden Brandy Butler hätte ich dem Regisseur allerdings ebenso gern geschenkt wie die Video-Aufnahmen, die nicht erhellten, sondern nur störten.
„Früchte des Zorns“
In seiner Bearbeitung von Steinbecks 1939 veröffentlichtem sozialkritischem Epos „Früchte des Zorns“ behielt Christopher Rüping das geschilderte Verfahren bei, wurde diesmal aber der Wucht des Stoffes nicht gerecht. Dabei könnte die Story aktueller gar nicht sein: Eine arme Pächterfamilie aus Oklahoma wird von profitgierigen Grossgrundbesitzern von ihrem unfruchtbar gewordenen Land vertrieben und, in der Hoffung auf ein besseres Leben, gezwungen, sich dem vieltausendköpfigen Flüchtlingsstrom Richtung Kalifornien anzuschliessen.
Im verheissenen Land erwarten die Armutsflüchtlinge jedoch nicht, wie versprochen, Arbeit und Wohlstand im Überfluss, sondern Rassismus, Ausbeutung und ein langsames Sterben. Die Bilder von damals decken sich mit den Bildern von heute. Doch diese Parallele scheint Christopher Rüping nicht zu interessieren. Anders als Steinbeck und anders auch als John Ford in seiner berühmten Verfilmung des Romans aus dem Jahr 1940 stellt Christopher Rüping das Elend nicht dar, sondern er zeigt es ganz so, als wollte er Brechts „V-Effekt“ eine späte Reverenz erweisen. Und vor allem: Er zeigt es aus der Sicht der Reichen, hier dem Zeitgeist entsprechend „Gucci Gang“ genannt, zu denen er auch das Zürcher Publikum, zu denen er uns alle zählt, die wir, wissend oder unwissend, Profiteure des Elends anderer geworden sind. Wie die Gucci Gang tragen wir Designer-Klamotten, die unter unwürdigsten Bedingungen in Bangladesh oder China gefertigt sind. Und wie diese in ihrer Radio-Show sitzen auch wir abends vor dem Fernseher und lassen uns vom Anblick der Flüchtlinge an der mexikanischen Grenze oder der überladenen Boote vor der libyschen Küste einen Moment lang berühren. Zu Handelnden werden wir dadurch nicht. Die Früchte des Zorns faulen, bevor sie richtig reif geworden sind.
Albernes Spektakel
Rüpings formaler wie gedanklicher Ansatz mag bestechend sein, funktioniert hat er jedoch meiner Meinung nach nicht. Und das liegt in erster Linie daran, dass er mit seiner Kritik an dem vom Elend anderer profitierenden Wohlstandsbürger nicht ernst gemacht hat. Seine „Reichen“ sind ein Haufen singender, hüpfender und geistlos dahinplappernder hipper Leute, für die das Elend ihrer Mitmenschen nicht viel mehr ist als Stoff zur Befriedigung ihrer Gier nach Unterhaltung. Um dies zu demonstrieren, treten sie nicht nur in einem grellen Mix aus Chanel-, Vuitton- und Gucci-Klamotten auf, sondern tanzen, dem Romantitel zuliebe, auch mal als Erdbeere, Ananas oder Orange verkleidet über die Bühne, während ein niedlich dahintuckernder Roboter die Parolen der Mächtigen zum Besten gibt.
Bewirkt wurde mit solchen Gags gar nichts, nicht Solidarität mit den Entrechteten, nicht Zorn auf die Ausbeutenden und erst recht keine Veränderung der herrschenden Verhältnisse. Stattdessen tritt an dem fast dreistündigen Abend auf der Pfauenbühne ein Unernst zu Tage, der angesichts der real existierenden Zustände in den Flüchtlingslagern dieser Welt von Zynismus nur noch einen Wimpernschlag entfernt ist.