Der 28. Juli 1945 ist ein Sonntag. In Boston startet am frühen Morgen ein zweimotoriger B-52-Bomber. Pilotiert wird die Maschine von Oberstleutnant William Franklin Smith. Neben dem 27jährigen Piloten befinden sich zwei Soldaten aus New Bedford an Bord.
Die B-25, die da auf dem Weg nach Newark in New Jersey bei New York fliegt, ist ein legendäres Flugzeug. 9984 Stück wurden davon gebaut. Die Maschine erhielt den Beinamen Mitchell - im Andenken an den 1936 verstorbenen amerikanischen General Billy Mitchell, dem Vater der United States Air Force. Die B-25 hat einen wichtigen Anteil am alliierten Sieg im Zweiten Weltkrieg. Selbst die sowjetische Luftwaffe setzte den Bomber ein. Einen Namen machte sich die B-25 vor allem bei der Bombardierung von Tokio.
William Franklin Smith ist ein erfahrener Pilot. Während des Krieges flog er zahlreiche Einsätze in Europa. 500 Flugstunden hat er hinter sich. Nie hat er einen Fehler gemacht.
Auf dem Weg nach Newark in New Jersey verdüstert sich der Himmel. Kalte und warme Luft prallen aufeinander. Der Nebel wird dichter. Doch für einen erfahrenen Piloten wie Smith ist dies kaum ein Problem.
Emotionale Beziehung zu einem Wolkenkratzer
Szenenwechsel. In Europa ist der Zweite Weltkrieg zu Ende. Amerikanische Militärs kehren aus dem Alten Kontinent zurück. Im Fernen Osten geht der Krieg weiter. Am Tag nach diesem Sonntag werden die Japaner das amerikanische Kriegsschiff Indianapolis versenken. 883 Seeleute werden sterben. Die Hilfswerke in ganz Amerika arbeiten auf Hochtouren. Auch an diesem Sonntagmorgen herrscht im Empire State Building Hochbetrieb. Dort, im 79. Stockwerk, befinden sich die Büros des Katholischen Hilfswerks, der Catholic War Relief Services.
Das Empire State Building, der damals höchste Wolkenkratzer der Welt, ist für die Amerikaner ein magisches Gebäude, zu dem sie eine fast emotionale Beziehung haben. Die Einweihung des Turms am 1. Mai 1931 war ein nationales Ereignis und wurde live am Radio übertragen. Das Art Déco-Bauwerk war nach der Wirtschaftsdepression Ausdruck des Strebens nach oben. Und jetzt, nach dem verlustreichen aber gewonnenen Krieg, ist der 443 Meter hohe Turm wieder Symbol für die Grösse und Standfestigkeit Amerikas. Verewigt ist das Gebäude an der Fifth Avenue auch in zahlreichen Filmen. So trat dort erstmals, 1934, der Monster-Affe King Kong auf.
Nicht nur das Katholische Hilfswerk ist an diesem Sonntagmorgen an der Arbeit. Auch Fiorello Enrico LaGuardia, der etwas beleibte und untersetzte Bürgermeister von New York. Sein Vater stammt aus Apulien, seine Mutter aus Triest. LaGuardia, einer der besten und beliebtesten Bürgermeister, die New York je hatte, ist ein linker Republikaner, der gegen die Mafia kämpft und sich für die Rechte der Frauen stark macht. „The Little Flower“ (Fiorello) wie er genannt wird, ist auch ein begeisterter Flugzeug-Fanatiker. Später wird der New Yorker Flughafen nach ihm benannt: LaGuardia Airport.
Den Fluss verwechselt
„Die kleine Blume“ sitzt an diesem Sonntagvormittag in seinem Büro und brütet über dem Haushaltplan der Stadt. Seit langem kämpft er dafür, dass der Flugverkehr über New York besser geregelt wird. Sonst, so sagte er, werde es eines Tages zur Katastrophe kommen.
William Smith und seine B-25 nähern sich New York. Der Nebel über Manhattan wird dicker. Smith sieht einen Fluss unter sich. Er glaubt, es sei der Hudson River – der richtige Weg zum Flughafen Newark. So muss er südwärts fliegen und rechts abdrehen und dann landen. Doch Smith fliegt nicht über den Hudson, sondern über den East River. Und zwischen East River und Hudson liegt Manhattan. Und das Empire State Building, wo die katholischen Helfer an der Arbeit sind.
Smith beginnt mit dem Sinkflug. Plötzlich tauchen vor ihm Wolkenkratzer auf. Er fliegt jetzt auf einer Höhe von 153 Metern – mitten über Manhattan. Es gelingt ihm, dem Rockefeller-Gebäudekomplex auszuweichen, auch den Chrysler-Turm lässt er neben sich liegen. Plötzlich taucht aus dem Nebel das Empire State Building auf. Es ist 09.45 Uhr.
Zwischen dem 79. und dem 80. Stockwerk prallt der Bomber in das Gebäude und schlägt ein fünf Meter breites Loch. Einer der Propellermotoren fällt auf das Dach eines weniger hohen Hochhauses. Dort löst er in einem Penthouse einen Brand aus. Das zweite Triebwerk stürzt einen Liftschacht hinunter.
Fiorello LaGuardia wird sofort informiert und rast an den Unfallort. Feuerwehr und Hilfsmannschaften sind schon im Einsatz. Mit dem Lift fahren sie in den 67. Stock. Mit Löschzeug kämpfen sie sich zum 79. Stockwerk hoch. Innerhalb von 19 Minuten löschen sie den Brand – eine Meisterleistung.
Als ob New York im Herzen getroffen wäre
Viele Angestellte des katholischen Hilfswerks stehen an den Fenstern und rufen um Hilfe, andere verharren an ihren Schreibtischen. 14 Personen kommen ums Leben: Die drei Flugzeuginsassen und elf Angestellte des Hilfswerks. 25 Personen werden zum Teil schwer verletzt.
Der Crash im legendären Empire State Building ist sofort Tagesgespräch. Noch gibt es kein Fernsehen, doch Zeitungen drucken Sonderausgaben mit vielen Fotos. Radiostationen berichten ununterbrochen von der Fifth Avenue 350. Es ist, als ob New York ins Herz getroffen wäre.
Und wieder, ganz amerikanisch, wird der Unfall zum Symbol für die Standfestigkeit der Nation. Denn das Building hat dem Aufprall standgehalten. Bereits am Tag danach ist das Gebäude wieder offen, und in den Büros wird gearbeitet. Der Schaden wird innerhalb weniger Wochen behoben.
Zur Legende wurde die Geschichte der Betty Lou Oliver. Sie bediente den Lift und wurde im 78. Stockwerk verletzt. Die Hilfsmannschaften wollten sie – per Lift – nach unten transportieren. Doch das Kabel riss. So stürzte Betty Lou Oliver im Liftschacht 75 Meter in die Tiefe – und überlebte. Der Sturz ist im Guiness Book of Records registriert.
Post Scriptum
1946 kracht erneut ein Flugzeug in ein Hochhaus in Manhattan. Diesmal, am 20. Mai, fliegt eine C 45-Beechcraft in das 40 Wallstreet Building, heute Trump Tower genannt. Ursache des Unglücks ist auch diesmal dichter Nebel. Alle fünf Besatzungsmitglieder sowie eine Armee-Angehörige kommen ums Leben. Zur Zeit des Aufpralls im 58. Stockwerk befinden sich zweitausend Personen im Gebäude. Niemand wird verletzt.
Gut fünf Jahre nach 9/11 prallt in Manhattan eine Cirrus SR20, ein einmotoriges Leichtflugzeug, ins Belair Apartment Gebäude in der Upper East Side. Die zwei Flugzeuginsassen werden getötet. Aufsehen erregt der Unfall auch, weil einer der Toten Cory Lidle ist, ein Pitcher des legendären Baseball-Vereins New York Yankees. Ursache des Unglücks ist ein Pilotenfehler.
Nicht nur in New York prallen Flugzeuge in Gebäude. Am 5. Januar 2002 stielt der 15jährige Schüler Charles J. Bishop eine Cessna 172. Er steuert die Maschine direkt ins Hochhaus der Bank of America in Tampa in Florida. Der junge Mann stirbt, Verletzte gibt es keine. Charles Bishop soll Sympathien für Osama bin Laden gehabt und sich an 9/11 inspiriert haben.
Am 18. April 2002 fliegt eine Rockwell Commander 112 direkt ins Pirelli-Hochhaus beim Mailänder Hauptbahnhof. Der Pilot stirbt, ebenso zwei Anwältinnen, die sich im Gebäude befinden. Die Maschine ist vom Flughafen Magadino bei Locarno gestartet. Die Ursache des Unglücks steht nicht mit letzter Sicherheit fest. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Suizid des Piloten, der in argen wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte.
Zurück in die USA: Am 18. Februar 2010 steuert Andrew Joseph Stack eine Piper Dakota ins Gebäude der amerikanischen Steuerbehörde in Austin, Texas. Der Pilot und ein Angestellter des Steueramtes werden getötet. Stack fühlt sich von den Steuerbehörden terrorisiert und kündigt auf seiner Website seinen Suizid an.