Dietmar Woidke fährt volles Risiko. Entweder die Wähler und Wählerinnen im historischen «Alte-Fritz-Land» machen die SPD bei den Landtagswahlen am 22. September in Brandenburg wieder zur stärksten Partei, «oder ich bin weg», sagt der hünenhafte, fast 2 Meter grosse, 62 Jahre alte sozialdemokratische Ministerpräsident. Doch auch in Brandenburg liegen die AfD in den Umfragen vorn, wenn auch knapp.
Nach Thüringen und Sachsen vor zwei Wochen sind die Wahlen in Brandenburg die dritten dieses Jahr in den seit der Wiedervereinigung 1990 gar nicht mehr so neuen «Neuen Ländern». Die Strategen im Berliner Willy-Brandt-Haus, der sozialdemokratischen Parteizentrale, beschleichen – fraglos – höchst gemischte Gefühle, wenn sie auf das Brandenburger Geschehen blicken. Denn, einerseits, führt der gelernte Diplomagraringenieur einen Wahlkampf mit nahezu maximaler Distanz zum eigenen «Genossen Bundeskanzler» und zur Parteispitze in der benachbarten Hauptstadt. Zum anderen, indessen, ist Woidke nach den dramatischen SPD-Wahlschlappen in Thüringen und Sachsen momentan der einzig verbliebene Hoffnungsträger der traditions-, einst so ruhmreichen und jetzt so arg gebeutelten Sozialdemokratie.
«Brandenburg braucht Grösse»
Wie das konkret aussieht, davon kann sich jeder überzeugen, der in diesen Tagen durch Brandenburg reist. An Dietmar Woidke kommt einfach niemand vorbei. Überall stehen und hängen Wahlplakate, manche zeigen den fast 2-Meter-Mann sogar in vollem Ausmass. «Brandenburg braucht Grösse», suggerieren Woidkes Werbe-Experten den Wählern in dem Landstrich, der – wegen seiner sandigen Böden – einst gern als des «Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse» benannt war. Den sozialdemokratischen Kanzler (der seinen Bundestags-Wahlkreis immerhin in Brandenburg hat) sucht man auf den Plakaten und Plakatwänden freilich ebenso vergeblich wie Hinweise auf die SPD-Mitgliedschaft des Regierungschefs. Mehr noch, Woidke hat sich Wahlkampf-Auftritte von Scholz und der übrigen Parteispitze ausdrücklich verbeten – er will nicht vom Negativ-Image der Berliner Ampel berührt werden.
Logisch, dass ihm die Konkurrenz diese Strategie ungern durchgehen lässt. So hat, beispielsweise, die Junge Union – die Jugendorganisation von CDU und CSU – ihrerseits Plakate mit den Konterfeis der beiden Genossen und der Unterzeile aufgestellt: «Wer Woidke wählt, wählt Scholz.» Das gefällt keineswegs allen Granden in der Union. Zum Beispiel Michael Kretschmer nicht, dem christdemokratischen Kollegen im benachbarten Sachsen, der ganz offen zu einer Wiederwahl des Sozialdemokraten an die Spitze des Landtags in Potsdam aufruft, obwohl die eigenen CDU-Freunde mit Jan Redmann als Frontmann verzweifelt um möglichst viele Wählerstimmen kämpfen. Tatsache ist, dass Dietmar Woidke und das Abschneiden der SPD in diesem Landtagswahlkampf eine Art Symbolcharakter besitzen. Noch nie seit der deutschen Vereinigung zu Beginn der 90er Jahre hat in Brandenburg eine andere Partei den Regierungschef gestellt – erst Manfred Stolpe, dann Matthias Platzeck, und seit 2013 eben Dietmar Woidke.
Wie ein Ritt über den Bodensee
Woidkes Kurs des Alles-oder-Nichts gleicht, keine Frage, einem Ritt über den Bodensee. Geht seine Hochrisiko-Rechnung auf, wird er von seiner Partei als Held gefeiert werden, und von seinem Erfolgslorbeer wird vermutlich auch das eine oder andere Blatt auf den bislang ohne Ruhm gebliebenen Olaf Scholz fallen. Scheitert jedoch sogar dieser populäre und beliebte Landesvater, den angeblich 94 (!) Prozent der Befragten weiter an dieser Stelle haben möchten, dann würde sich wirklich in aller Schärfe die Frage nach der Zukunft des demokratischen Systems und entsprechend der Zuverlässigkeit der demokratischen Einstellung der Bürger dieses Landes stellen. Denn die Aussage der Wähler wäre: Ungeachtet der Person selbst dieses hochgeachteten Politikers und seiner nicht zu bestreitenden Erfolge sowie trotz unserer historischen Erfahrungen ziehen wir gesichert rechtsextreme Geister den demokratischen, dem Recht, der Freiheit, der Menschenwürde und der Vielfalt verpflichteten Kräften vor.
Natürlich brodelt in Brandenburg, wie überall in Deutschland, der Unmut über die seit Jahren verfehlte Migrationspolitik. Trotzdem zeigt die starke Position der AfD gerade dort, wie irrational das von Wut, Ärger und Protest gelenkte politische Verhalten der Bürger ist. Denn Brandenburg ist, nachweislich, Wachstumsland. Und zwar in doppelter Hinsicht. Das gilt, nicht zuletzt, wirtschaftlich. Natürlich mithilfe reichlicher öffentlicher Fördermittel ist es weitgehend gelungen, den keineswegs allein ökonomisch, sondern vor allem auch menschlich ausserordentlich schwierigen Strukturwandel in der Lausitz zu bewältigen – weg von der traditionellen Braunkohle, hin zur Windkraft. In Cottbus entstand ein neues Werk zum Bau von hochmodernen Eisenbahnen, auf grüner Wiese errichtete der US-Milliardär Elon Musk eine riesige Produktionsstätte für batteriebetriebene «Tesla»-Automobile. Und Wachstumsland ist Brandenburg auch hinsichtlich der Bevölkerungszahlen. Als erste und bislang einzige Region der einstigen DDR weist Brandenburg mittlerweile wieder genauso viele Menschen aus wie vor und in der Zeit der «Wende».
Nur noch einen Punkt hinter der AfD
Während der vergangenen Wochen, besonders aber wohl seit den Wahlbürgern die Ernsthaftigkeit von Woidkes Drohung wirklich bewusst wurde, nur im Erfolgsfalle weiterzumachen, stiegen die lange miesen Umfrageergebnisse der SPD deutlich an. Den neuesten Erhebungen zufolge liegt die Partei mit 26 Prozent nur noch einen Punkt hinter der AfD, die CDU würde 16 und das Bündnis Sahra Wagenknecht 13 Prozent erreichen. Einen oder vielleicht gar mehrere Koalitionspartner würde Woidke also auch im Falle eines Wahl-«Sieges» für eine regierungsfähige Mehrheit benötigen. Dietmar Woidke – der neue Hoffnungsträger der SPD? Oder wird sich an der Person dieses bodenständigen, pragmatischen, jeglichen linken oder rechten Ideologien abholden Brandenburgers verstärkt die Frage nach der Demokratiefähigkeit der Deutschen stellen? Es wird am 22. September auf alle Fälle einen spannenden, vielleicht sogar dramatischen Wahlabend geben.