Sie hat ihren jungen Komponisten berühmt gemacht, doch gespielt wird die Oper «Cavalleria rusticana» von Pietro Mascagni nicht mehr allzu oft. Dass es sich sehr lohnt, diesen Einakter zu hören, zeigt eine Neueinspielung der Oper unter Thomas Hengelbrock – zum ersten Mal in der Originalfassung.
Gegen die Premiere hin musste alles schnell gehen. Anfang März 1890 wurde von einem Jurymitglied zum ersten Mal die Frage nach Kürzungen an «Cavalleria rusticana» aufgeworfen - jenem Einakter, den der 26-jährige Pietro Mascagni für einen Wettbewerb des Mailänder Verlegers Edoardo Sonzogno eingereicht hatte, und der nun zusammen mit zwei anderen Preiskandidaten aufgeführt werden sollte.
Der Komponist legt Hand an
Ende April – die Premiere war für den 17. Mai 1890 angesetzt – erreichte ihn ein Brief des Dirigenten, in dem er schrieb, «er wüsste gern, welche Kürzungen vorzunehmen sind –, oder aber ihn zu ermächtigen, die Kürzungen vorzunehmen». So berichtet es Mascagni einem Freund. Rasch kehrte der Komponist nach Rom zurück und kürzte, und zwar ziemlich viel: 247 Takte, mehr als elf Prozent der gesamten Oper. Teils dienten diese Kürzungen der Straffung des Tempos, teils der Entlastung des schlecht vorbereiteten Chors. Und: Gemma Bellincioni (die Santuzza der Uraufführung) und Roberto Stagno (der Turiddu) beklagten sich über die «wahrhaft titanische stimmliche Anforderung», die ihre Rollen stellten. Deshalb wurden vier Stücke nach unten transponiert.
Wie das geklungen hat, was Mascagni ursprünglich vorhatte, das lässt sich jetzt feststellen: Für das Label Prospero hat Thomas Hegelbrock zusammen mit dem Balthasar-Neumann-Chor und -Orchester eine ursprünglichere «Cavalleria rusticana» vorgelegt. Einige der wichtigsten Kürzungen und die meisten Transpositionen wurden dabei rückgängig gemacht. Getragen wird die Einspielung vom wunderbar disponierten Chor und einem international zusammengesetzten Sängerensemble. Die Santuzza singt sehr eindringlich die deutsche Sopranistin Carolina López Moreno, den rauen Turridu der italienische Tenor Giorgio Berrugi, die Lucia die italienische Mezzosopranistin Elisabetta Fiorillo, den lebenslustigen Alfio der slowenische Bariton Domen Križaj und die verführerische Lola die französische Mezzosopranistin Eva Zaïcik. Ausser Elisabetta Fiorillo, deren üppiges Vibrato störend wirkt, vermitteln sie ein intensives Bild jenes Dramas, das Pietro Mascagnis «Cavalleria rusticana» nicht nur zu seinem ersten, sondern auch zu seinem grössten Erfolg hat werden lassen. Deutlich hört man, dass Mascagni hier ein neues Kapitel in der Operngeschichte aufgeschlagen hat.
Alle sind schuldig, und alle sind Opfer
Wobei dieses Neue, das den Titel Verismo trägt, weniger in der Musik selbst als in der Handlung und in den Rollen zum Ausdruck kommt. «Cavalleria rusticana» spielt an Ostern in einem sizilianischen Bauerndorf und handelt von einer tödlich endenden Affäre. Einst waren Turridu, der Sohn der Weinhändlerin Lucia, und Lola ein Paar. Dann musste Turridu ins Militär. Als er zurückkehrte, hatte Lola den Fuhrmann Alfio geheiratet. Doch geht Lola Turridu nicht aus dem Kopf, gleich zu Beginn der Oper besingt er ihre Schönheit. Obwohl er mittlerweile mit Santuzza liiert, aber nicht verheiratet ist –, die wegen dieses «Fehltritts» vom ganzen Dorf geächtet wird. Während die Dorfbewohner zur Kirche strömen, sucht Santuzza ihren Geliebten und fragt bei Turridus Mutter nach, die behauptet, er sei in die Stadt gefahren. Andere freilich haben ihn im Dorf gesehen, in der Nähe von Lolas Haus, deren Mann gerade unterwegs ist. So stellt Santuzza Turridu zur Rede, er weicht aus, reagiert wütend, geht mit Lola in die Kirche, und als die aufgewühlte Santuzza den zurückgekehrten Alfio trifft, verrät sie ihm Turridus Affäre. Der zögert nicht lang und fordert Turridu nach der Messe zum tödlichen Duell.
All dies schildern Mascagnis Librettisten Giovanni Targioni-Tozzetti und Guido Menasci in knappen Strichen. Alle an der Tragödie Beteiligten sind schuldig im Sinn der herrschenden Moral, und sie sind zugleich alle Opfer dieser rigiden Lebensordnung. Lola begeht Ehebruch, Turridu «entehrt» Santuzza, Santuzza verrät die beiden, und Alfio wird zum Mörder. Liebesgefühle werden – ausser in Turridus Siciliana gleich zu Beginn – kaum gezeigt, stattdessen Hass, Wut, Enttäuschung und Schmerz. Die Musik ist reich an Atmosphäre, sie ist hart und knapp. Während friedliche Gesänge aus der Kirche dringen, entfaltet sich draussen eine andere Welt, in deren starrem moralischen Korsett den Menschen jede Freiheit genommen ist. So schlägt Mascagni jenseits von Verdi und Wagner ein neues, in seiner unmittelbaren Kraft noch immer faszinierendes Kapitel der Operngeschichte auf.
Mascagnis einsamer Tod im Hotel
Das spürten auch jene Zuhörerinnen und Zuhörer, die am 17. Mai 1890 im Teatro Costanzo in Rom zugegen waren. Nicht weniger als sechzig Vorhänge belohnen ihren Schöpfer, der seinem Vater schreibt: «Niemals hätte ich eine solche Begeisterung vorhersehen können.» Noch eine Weile hält Mascagnis Erfolg an. Bis heute wird in Italien «L’amico Fritz» von 1891 gespielt, ihm folgen «I Rantzau» (1892), die Einakter «Silvano» (1895) und «Zanetto» (1896) sowie die zu Unrecht vergessene «Iris» (1898). Dann, mit dem Misserfolg von «Le maschere» (1901), setzt Mascagnis Abstieg in der Gunst des Publikums an. 1945 stirbt er verarmt und einsam in einem Römer Hotel, nachdem die «Cavalleria rusticana» mit ihrer Idee eines bodenständig-archaischen Landvolks dem Faschismus willkommene kulturelle Munition geliefert hatte. Was ihrem Schöpfer keineswegs unangenehm war; gern und oft empfing ihn Diktator Mussolini zum Gespräch.
Pietro Mascagni: Cavalleria rusticana, Thomas Hengelbrock, Balthasar-Neumann-Chor und -Orchester, Prospero 2023