Nach der Finanzkrise die Coronakrise – die Perspektivlosigkeit nagt an den Griechinnen und Griechen. Immer mehr können sie sich ein Leben in der Fremde vorstellen. Sogar Hunger könnte in Griechenland Einzug halten. Auch die EU-Kommission stellt Schwächen der griechischen Wirtschaft fest.
Die neudemokratische Regierung unter Kyriakos Mitsotakis behauptet, die Auswanderungswelle und der damit verbundene Brain-Drain sei zum Erliegen gekommen. Von wegen: In den ersten Monaten des laufenden Jahres zeichnet sich ab, dass 77 Prozent aller Griechinnen und Griechen im Alter von 17 bis 24 Jahren bereit sind, ihr Glück im Ausland zu suchen. Auch bei der Altersschicht der 25 bis 39-Jährigen sieht es kaum besser aus und für etwa 58 Prozent der Gesamtbevölkerung kommt Auswandern in Frage.
Während der Wirtschaftskrise hat Hellas von den 10 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern bereits eine halbe Million verloren. Der alarmierende Befund des Dianeosis-Instituts für Forschung und Politik zeigt, dass das Ende der Fahnenstange nicht erreicht ist und dass man auch in Bern mehr und mehr griechisch hören dürfte.
Inflation heute – Stagflation morgen?
Der Grund für diese Entwicklung? Vor einigen Tagen lernte ich mit meiner Tochter auf eine Volkswirtschaftsprüfung. Was die drei wichtigsten Gründe für Inflation seien, war eine Frage. Wir fanden drei Antworten: Eine plötzlich steigende Nachfrage, starke Preissteigerungen von Importgütern und eine sehr lockere Geldpolitik. Ob sie mir für eine solche Situationen Beispiele nennen könne? fragte ich. Griechenland heute, kam die Antwort wie aus der Kanone geschossen – für alle drei.
Die plötzlich steigende Nachfrage kommt aufgrund der aufgehobenen Pandemiemassnahmen zustande – bis am 1. Mai gab es noch äusserst strenge 2G-Einschränkungen. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ist immer noch ultralocker und von Athen aus nicht beeinflussbar. Der Schock der steigenden Energiepreise ist kaum zu absorbieren, da das Land nach wie vor extrem von importierten fossilen Brennstoffen abhängig ist. Sei es bei der Stromproduktion (Gas und Erdöl) oder auch beim Transport, der praktisch zu 100 Prozent auf der Strasse und per Schiff stattfindet: steigende Energiepreise schlagen über die Transportkosten auch stark auf die Preise von Gütern und Dienstleistungen durch. Jüngst wurde bekannt, dass das Land noch für zwei Monate Weizenvorräte hat. Es wird sich auf dem Weltmarkt zu deutlich höheren Preisen eindecken müssen.
Noch 2019 hatte es hoffnungsvoll ausgesehen. Der Lebensstandard war zwar wesentlich tiefer als vor der Finanzkrise, aber die Krise galt als überwunden und die Wachstumsraten konnten als nachhaltig betrachtet werden. Die Pandemie und die rekordverdächtigen Lockdowns führten dann aber zu einem erneuten Einbruch der Wirtschaftsleistung, zu einem der – wie die Ökonomen sagen – gefürchteten «double dips».
Am ersten Abend in Griechenland im Restaurant: Ich studiere die Speisekarte. Mir fällt etwas auf, was in den 90er-Jahren gang und gäbe war und ich seither nicht mehr gesehen habe. Die Speisekarte ist gedruckt, die Preise sind aber mit Bleistift eingetragen. Sie können so ausgelöscht und neu geschrieben werden. Das bedeutet: Die Inflation ist nicht nur ein temporäres Phänomen, sie wird hartnäckig sein, denn die Inflationserwartungen sind hoch – wie das Beispiel der Speisekarte zeigt.
Das wahrscheinlichste Szenario für Griechenland ist eine Stagflation: Beharrliche Inflation ohne nennenswertes Wirtschaftswachstum, etwas, was den Mittelstand (so es ihn noch gibt) in die Armut treibt. Nur einer profitiert: Der hoch verschuldete Staat. Inflation lässt den Schuldenberg schmelzen wie Butter an der Athener Sonne. Bemühungen, die Preisspirale einzudämmen, sind also nicht zu erwarten. Immerhin ist die Karte im Café im Berner Breitenrain gedruckt und baldige Preisaufschläge sind dort nicht zu erwarten.
Europäische Kommission besorgt
Auch die Europäische Kommission stellte in einem jüngst vorgestellten Bericht fest, dass die griechische Wirtschaft Schwächen zeigt, die andere EU-Länder nicht aufweisen.
Der ausführliche Bericht hebt fünf Probleme hervor, mit denen Griechenland konfrontiert ist, und erinnert daran, dass sich das Land zwar aus dem Überwachungsmechanismus lösen möchte, den es seit der Vergabe der Rettungskredite während der Finanzkrise unterworfen ist, dass es aber weiterhin unter makroökonomischem Ungleichgewicht leidet. Nur Griechenland, Zypern und Italien befinden sich innerhalb der EU in einem solchen Zustand.
Die fünf Probleme, die die Kommission hervorhebt, sind:
- eine hohe Staatsverschuldung,
- eine hohe Quote notleidender Kredite,
- ein anhaltendes Zahlungsbilanzdefizit,
- eine hohe Arbeitslosenquote und
- daraus folgend ein niedriges Wachstumspotenzial.
All diese offenen Wunden schwären gleichzeitig mit einer Reihe anderer Probleme der griechischen Wirtschaft, die – so die Kommission – trotz Fortschritten in einigen Bereichen nicht behoben sind.
Obwohl der Anteil der notleidenden Kredite in Griechenland bis September letzten Jahres deutlich auf 12 Prozent gesenkt werden konnte, ist er nach wie vor der höchste in der Europäischen Union und belastet die Gewinne der Banken sowie deren potenzielle Kreditvergabe an Haushalte und Unternehmen. Auch sind die griechischen Banken kapitalmässig immer noch eher schmal auf der Brust.
Das hohe Handelsbilanzdefizit von 5,9 Prozent (2020) am Bruttoinlandprodukts zeigt, dass es auch in Zukunft schwierig wird, das entsprechende Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren und dass die griechischen Exportprodukte und Dienstleistungen immer noch allzu oft nicht konkurrenzfähig sind. Da Griechenland der Eurozone angehört und nicht abwerten kann, fällt es schwer zu sehen, wie hier ein Gleichgewicht erzielt werden kann.
Die ausländischen Direktinvestitionen sind zwar bis 2021 jährlich um 13 Prozent gestiegen, aber ihr Bestand bleibt mit 27,3 Prozent des BIP gegenüber 77 Prozent in der EU weit unter dem Durchschnitt. Die Wirtschaftstätigkeit, so der Bericht, konzentriert sich auf kleine und sehr kleine Unternehmen mit begrenztem Zugang zu Finanzmitteln, während der Tourismus nach wie vor auf «Sun, fun, nothing to do» ausgerichtet ist – immer gemäss der EU-Kommission.
Die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor eine der höchsten in der EU, auch wenn sie gegenüber den Jahren der Finanzkrise zurückgegangen ist. Ferner habe sich die Wettbewerbsfähigkeit zwar verbessert, sei aber immer noch recht niedrig, so die Kommission.
Wo die Kommission völlig falsch liegt, ist in der Beurteilung der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise. Während sie Griechenland attestiert, diese wirtschaftlich gut gemeistert zu haben, sieht die Sache in der Realität anders aus. Produktionsketten wurden unterbrochen und konnten nicht wiederhergestellt werden. Land- und Erntearbeiter waren der Quarantänen, Ausgangs- und Reisebeschränkungen müde und haben dem Land definitiv den Rücken gekehrt. Agrarflächen bleiben unbestellt. Die Produktionskosten in der Landwirtschaft steigen, weil unter anderem auch Düngemittel rar und extrem teuer sind. Läden machen dicht.
Dies alles wird sich in steigenden Preisen niederschlagen. Bei gleichbleibenden und im Fall von Arbeitslosen sinkenden Einnahmen wird das in vielen Fällen zu auswegslosen Schicksalen führen. Ein kretischer Professor schlug kürzlich am Radio dramatische Töne an. «Es kommt der Hunger», sagte er unverblümt und mutmasste, dass die Regierung die darauffolgende Revolte mit Polizei und Militär niederschlagen werde.
Es sind genau diese Probleme, seit vielen Jahren zu kritisieren sind Und dabei sind Kernübel wie Korruption, Vetternwirtschaft und Klientelwesen noch gar nicht erwähnt. Die Schlussfolgerung drängt sich auf: Affaire à suivre.
Bescheidene Taxifahrer
Wer sich von diesen Problemen nicht beirren lässt, ist die griechische Handelsschifffahrt. Bald wird man das russische Erdöl nur noch über die Pipeline beziehen dürfen, nicht aber per Schiff. Aber die griechische Handelsmarine – eine der weltweit grössten – darf natürlich dieses Öl entsprechend einer Ausnahmeregelung im Sanktionsregime der EU weiterhin transportieren; nur kaufen darf man es nicht mehr. Täglich legen weiterhin griechische Tanker in russischen Schwarzmeerhäfen ab und fahren ungehindert zum Beispiel in Richtung Indien (die Inder verkaufen das Öl dann vielleicht weiter nach Europa…). «Wir sind bescheidene Taxifahrer. Wir transportieren von A nach B. Nichts anderes», kommentierte ein griechischer Schiffsreeder.
Der griechische Bürger leidet unter hohen Sprit- und im Gefolge unter hohen Nahrungsmittelpreisen. Aber der Schiffsreeder zieht seine Kreise. Griechische Schifffahrt – wie immer seit der Antike.
Russland kann sein Erdöl immer noch verkaufen und erfreut sich hoher Preise, die der Bürger in Europa zahlen muss. Immerhin ist der Gashahn in Griechenland noch offen. Wie kommt das? Russland akzeptiert als Bezahlung nur noch Rubel. Der Westen hat beschlossen, dass die Staaten weiterhin in Dollar zahlen müssen. Aber wenn zum Beispiel die Elektrizitätsgesellschaft DEI, der grösste Gasverbraucher, die Rechnung in Rubel bezahlt? Darüber sagen die Sanktionen nichts aus. Gerüchtehalber ist genau das geschehen.