Ein Knie geht einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts!
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Unverkennbar Christian Morgenstern. – An dieses Gedicht dachte ich oft während der letzten Tage, als ich Pläne für meinen nächsten Streifzug durch die Welt schmiedete und immer wieder, schon nach einem Gang durchs Dorf zum Einkaufen, mein linkes Knie spürte und den geplanten Ausflug immer wieder verschob.
Nicht dass ich deswegen besonders beunruhigt gewesen wäre: Mein Knie meldete sich während der letzten zehn Jahre sporadisch, aber die Schmerzen verschwanden immer nach zwei, drei Wochen, ohne dass ich viel mehr getan hätte, als es zu schonen. So werde ich es auch diesmal halten: Übung in Geduld!
Doch was tun mit meiner geplanten nächsten Kolumne? – Die Fortsetzung von Morgensterns Gedicht – eigentlich eine ziemlich düstere Angelegenheit – setzte, wenn schon nicht meine Beine, so wenigstens meine Gedanken in Bewegung.
Im Kriege ward einmal ein Mann
erschossen um und um.
Das Knie allein blieb unverletzt –
als wär’s ein Heiligtum.
Ich könnte doch, während ich mich zuhause schone, Morgensterns Knie an meiner Statt auf Wanderschaft schicken. Ich müsste es nur mit einer Kamera ausrüsten und mir, so wie das vom Mars geschieht, die Bilder nach Hause schicken lassen.
Ein glücklicher Zufall hat mir vor ein paar Wochen tatsächlich eine mobile Kamera geschenkt, hinter der ein für „das Ausserordentliche im Gewöhnlichen“ sensibles Auge die Welt beschaut, das Auge von Norbert Bruggmann, über den ich im Lexikon zur Kunst in der Schweiz (SIKART) lese: „Konzeptkünstler, Maler und Plastiker, Grafikdesign, Photo Art”.
Kürzlich hat mir Norbert eine wortlose, aber nicht sprachlose Bildserie geschickt, welche auf einem Spaziergang rund um den Flugplatz Samedan absichtslos entstanden ist. Sie inspiriert mich dazu, mein Knie, ausgerüstet mit Norberts Blick, auf eine virtuelle Wanderung im Engadin zu schicken. Hier des Knies Geschichte.
Auf seinem Velo fährt das Knie – nennen wir es Ikarus, denn es geht ums Fliegen – über den Parkplatz von Cho d’Punt. Sein erster Blick fällt auf rot glänzende Tomaten, welche aus einer schwerelosen Welt des Makellosen zu stammen scheinen. Hinter einer Mauer von verschachtelten Einkaufswagen lockt eine Karriere als Filialleiter beim Billigverteiler. Nur kurz dreht Ikarus den Kopf, und schon wäre sein Velo beinahe mit dem startenden Privatjet einer berühmten Popsängerin kollidiert. Doch zum Glück handelt es sich nur um ein Plakat. Entschlossen lässt er sein Velo beim papierenen Flugzeug stehen. Sollen sie doch miteinander plaudern, die zwei so unterschiedlichen Produkte menschlichen Erfindungsgeistes.
Ikarus geht weiter. Bei der Einfahrt aufs Rollfeld des Flugplatzes, die von einer Figur bewacht wird, welche in einer Zeit rasant steigender politischer Korrektheit höchstens noch im Schutze des bescheidenen Empfangsgebäudes eines „der höchstgelegenen Flugplätze Europas” (Zitat Webseite Engadin Airport) eine gewisse Überlebenschance hat, entdeckt er das Original. Zu teuer für einen alten Griechen, sagt sich Ikarus, und zu schwer zum Fliegen, auch wenn die weit ausladenden Flügel an die federbehafteten Schwingen seines Vaters Dädalus erinnern.
Auch das zerbeulte Ungetüm, das er, halb zugeschneit, auf dem Parkplatz hinter dem Hangar entdeckt, sieht kaum wie ein taugliches Fluggerät aus, auch wenn es am Bug so etwas wie einen Propeller trägt. Ikarus marschiert der Piste entlang nordwärts. Ein Verbotsschild versperrt ihm den Weg. „Zum Glück bin ich nur ein Knie“, murmelt Ikarus, „als ganzer Mensch müsste ich umkehren“.
Von weitem meint er am Pistenrand wieder das Fluggerät der Popsängerin zu sehen. Schief und bewegungslos steckt es in einem Schneehaufen am Pistenrand. Ikarus ahnt Schlimmes, doch beim Näherkommen löst sich das Rätsel: Schon wieder ein Plakat!
Das schmale Strässchen führt schnurgerade und etwas eintönig weiter nach Norden. Zum Glück hat ein Aktionskünstler mittels braun-gelber Farbkleckse etwas Abwechslung in die Asphalt-Landschaft gebracht. – Hat er zu viel von den Plakatfrüchten beim Billigverteiler gekauft?
Am Pistenende meint Ikarus die Urheber des Kunstwerkes zu entdecken, ein Künstlerpaar der besonderen Art. Ob sie tatsächlich die Kunstschaffenden sind? Leider sind die beiden nur am Essen und nicht an einem Gespräch über moderne Kunst interessiert. So bleiben die durch unterschiedliche „Handschriften“ entstandenen Zweifel an deren Urheberschaft bestehen.
Der Rückweg führt am östlichen Rand des Flugplatzes entlang. Beim Campingplatz Chuoz Dadour stehen zwischen den Lärchen ein paar verlassene Behausungen. „Ich bin kein Baum, ich bin kein Zelt“, sagt sich das Knie und wandert auf der andern Seite der Piste wieder südwärts. Endlos führt sein Weg dem neuen Bett des Inn entlang. Vor dem südlichen Pistenende bleibt es plötzlich stehen. In Sichtweite des bewährten Windsacks, dem Wahrzeichen jedes Flugfeldes, experimentieren findige Ingenieure offenbar mit alternativen Methoden zur Sichtbarmachung von Windrichtung und -stärke. Die Schweiz, das Land der Erfinder!
Zurück beim Flughafengebäude, wartet Christian Morgenstern schon ungeduldig auf sein Knie. „So schmerzfrei bin ich schon lange nicht mehr gewandert“, sagt Letzteres zu seinem Schöpfer. „Komm, die Popsängerin nimmt uns mit in den Götterhimmel“, antwortet der Dichter. Als der silbrige Vogel über dem Engadin in den Weiten des Himmels entschwindet, schreibt ein längst tot geglaubter Poet einen neuen Vers:
Ein Knie fliegt einsam übers Tal.
Es ist ein Knie, sonst nichts!
Es ist kein Stuhl! Es ist kein Pfahl!
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Fotos von Norbert Bruggmann, Sils Maria
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