Mit Avi Avraham hat Dror Mishani einen bemerkenswerten Ermittler geschaffen. «Vertrauen», sein vierter Einsatz, stellt ihn menschlich vor grosse Herausforderungen und ist literarisch raffiniert gebaut.
Im Jahr 1937 hat ein heute vergessenes, unter dem Pseudonym Stefan Brockhoff auftretendes Kriminalschrifteller-Kollektiv in der «Zürcher Illustrierten» seine «Zehn Gebote für den Kriminalroman» präsentiert – und sogleich den Widerspruch eines Mannes geweckt, der noch immer einer der Grossen unter den Schweizer Schriftstellern ist: Friedrich Glauser. Dem Schematismus seiner Kollegen hat er in seinem offenen Brief zunächst die Bemerkung entgegengesetzt, dass ein Roman «mit Geboten nicht viel anfangen kann». Denn ein Roman, nach diesen Rezept geschrieben, sei «schicksalslos», die von ihnen empfohlene Methode sei anfangs aufregend gewesen – etwa bei E. A. Poes Chevalier Dupin –, nun aber «abgegriffen – um nicht zu sagen abgeschmackt».
Glauser, Maigret – und Avi Avraham
Was Glauser vermisst, das liefert er selbst in seinen Romanen mit dem Wachtmeister Studer. Und er erklärt auch, woher er es hat: Von Georges Simenon und seinem Kommissar Maigret. «Ein durchschnittlicher Sicherheitsbeamter, vernünftig, ein wenig verträumt.» So beschreibt er ihn. Und: «Nicht der Kriminalfall an sich, nicht die Entlarvung des Täters und die Lösung ist Hauptthema, sondern die Menschen und besonders die Atmosphäre, in der sie sich bewegen. Besonders die Atmosphäre.»
Man denkt an diese Worte, wenn man den Roman «Vertrauen» des israelischen Schriftstellers Dror Mishani zur Hand nimmt. Denn sein Oberinspektor Avi Avraham vom Polizeidistrikt Ayalon in Tel Aviv, der in seiner allerdings recht kargen Freizeit gerne Kriminalromane liest, ist unverkennbar ein Bruder von Kommissar Maigret. Und wie sein literarischer Ahn macht er sich auch in diesem vierten Abenteuer ganz gerne allein auf den Weg.
Zwei Fälle sind es, die ihn diesmal beschäftigen. Da ist zum einen Liora Talias, die vor einem Krankenhaus ein wenige Wochen altes Kind hat liegen lassen. Und da Jacques Bartoldi, ein Schweizer Tourist, der spurlos und ohne zu bezahlen aus seinem Hotel am Meeresufer verschwindet. Als Avi Avraham beim Hotel eintrifft, erklärt man ihm, alles habe sich erledigt. Bartoldi sei zwar nicht wieder aufgetaucht, aber zwei Männer hätten sein Gepäck geholt und bezahlt.
Liora Talias’ tiefsitzende Wut
Alles in Ordnung also? Weit gefehlt. Der ausdauernde Avraham nimmt Fährte auf, durchsucht das Zimmer, entdeckt Drogen und findet heraus, dass Bartoldi eigentlich Raphael Chouchani heisst und mit französischem Pass eingereist ist. Ein Drogenkurier also? Andererseits: In Chouchanis Wohnung in Paris ist eingebrochen worden, und seine Tochter hat einen Verdacht.
Mehr sei hiervon nicht verraten. Denn während Avraham seiner Spur folgt, vernimmt seine Mitarbeiterin Esthi Wahabe Liora Talias, und begegnet dabei einer tiefsitzenden, vom Unfalltod ihres Mannes rührenden Wut. Während wir dem Chouchani-Fall von aussen und aus sachlicher Distanz folgen, tauchen wir in Liora Talias’ Gefühlswelt ein und erfahren auch: Sie ist gar nicht die Mutter des akut gefährdeten Kindes, sie hat ihm Gegenteil ziemlich viel zu verstecken.
Die kluge Frau an seiner Seite
Die zwei Erzählstränge sind ebenso unauffällig wie kunstvoll ineinander verknüpft, auch sprachlich gibt Dror Mishani ihnen ein jeweils anderes Gesicht. In stundenlangen Befragungen erzählt Liora Talias atemlos, ihre Worte und die sie begleitenden Gedanken überstürzen sich. Ab und an schaltet Avi Avraham sich ein, befasst sich aber hauptsächlich mit dem verschwundenen Hotelgast. Und mit sich selbst. Selbstzweifel befallen ihn, und zwar von Anfang an. Denn «die meisten Fälle, in denen er in den letzten Jahren ermittelt hatte, waren tragische Gewalttaten gewesen, deren Aufklärung niemandem geholfen hatte», und es kommt ihm vor, «als würde er nur in bedeutungslosen Kriegen kämpfen, die nicht zu gewinnen sind».
Wäre da nicht Marianka, die kluge Frau an seiner Seite, Avi Avraham würde aufgeben.
Dror Mishani: Vertrauen. Diogenes 2022, 351 Seiten