Der vertraute Klang des Dialekts, unvermutete persönliche Verbindungen, ein Buch über das wohlbekannte Basel: Schon meldet sich die Erinnerung an Kinder- und Jugendjahre. Sie verführt zu einem etwas nostalgischen Stadtrundgang.
In Küsnacht, wenige Schritte vom Bahnhof, befindet sich das Kafi Carl. Dort trinkt man auf dem Trottoir einen Kaffee und schaut den Menschen zu, wie sie mit Managerausrüstung auf den Zug hasten oder mit Einkaufstaschen – beschriftet mit den Namenszügen bekannter Geschäfte an der Zürcher Bahnhofstrasse – aus der Stadt heimkehren.
Die wenigsten Gäste werden wissen, dass das Lokal in die deutschsprachige Literatur eingegangen ist. Als es noch Café Münz hiess, wirteten dort die Eltern der Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji, die mit ihrem Buch «Tauben fliegen auf» im Jahre 2010 sowohl den Schweizer als auch den Deutschen Buchpreis erhalten hatte. Das Buch ist autobiografisch geprägt. Melinda wuchs in Küsnacht auf, besuchte hier die Schulen und – ich vermerke es mit Stolz – die Ballettschule meiner Frau. Das Lokal ihrer Eltern spielt in ihrem Buch unter dem Namen «Café Mondial» eine wichtige Rolle.
Kaffehauskultur
Seit einigen Jahren führen Chantal Wiebach und Matthias Schmutz das Lokal unter dem Namen «Kafi Carl». Der Name verweise auf seinen Schwiegervater, erklärte uns Matthias, als wir, wegen seines Basler Dialekts neugierig geworden, mit ihm ins Gespräch kamen. Damals suchten wir für eine Gruppe von Küsnachterinnen und Küsnachtern, welche gegen die vom Gemeinderat geplante Auslagerung des Altersbereichs in eine gemeinnützige Aktiengesellschaft eine Initiative eingereicht hatte, einen Ort für die abendlichen Strategiegespräche. – Doch darüber ein andermal mehr: Der Ausgang des politischen Seilziehens ist noch offen; die Urnenabstimmung findet am 18. Juni statt.
Dass Matthias der Küsnachter Dissidentengruppe grosszügig Gastfreundschaft gewährt, ist wahrscheinlich nicht nur dem gemeinsamen Dialekt geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass er selbst vor seinem Zuzug nach Küsnacht Mitglied des Riehener Gemeinderats gewesen war, jener Gemeinde des Kantons Basel-Stadt, in der ich in den 1960er-Jahren mit meinen Eltern und Geschwistern lebte. Die Welt ist klein!
Überdies sind Chantal und Matthias nicht nur Kaffeehausbetreiber, sondern sie tragen mit ihren kulturellen Veranstaltungen zur Vielfalt des Gemeindelebens bei. So besuchten wir im vergangenen Dezember eine Lesung des Autors eines Buches mit dem Titel «Basel, unterwegs», das meine Frau vor einiger Zeit in der lokalen Buchhandlung entdeckt und – als einstige Baslerin – natürlich sofort gekauft hatte. Und wie hiess der Autor? – Lukas Schmutz, Journalist und Historiker, von 2004 bis 2016 Leiter der Inlandredaktion von Radio SRF und – welcher Zufall! – Bruder von Matthias Schmutz vom Kafi Carl.
«Ein aussergewöhnlicher Stadtführer durch die erste Schweizer Hochhaus-Stadt», heisst es in der Annonce des Verlags. Wie wir an der Lesung des Autors erfuhren, stehe die rasante Veränderung der Basler Skyline hinter der Idee des Autors, mit 26 Basler Persönlichkeiten, darunter auch die beteiligten Architekten der «Hochhausstadt», Herzog und de Meuron, je eine Stadtwanderung auf einer von den Eingeladenen gewählten Route zu unternehmen und die Eindrücke jeweils in einem Erlebnisbericht zusammenzufassen.
Die eigene «Basel-unterwegs-Geschichte»
Plötzlich scheint das Kafi Carl zum Nabel der Welt geworden zu sein, wo sich die Geschichtslinien überschneiden: Küsnacht und Basel/Riehen, Autorin und Autor wichtiger Bücher, Gemeindepolitik hier und dort ... Daher konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, den 26 «Basel-unterwegs-Geschichten» noch meine eigene hinzuzufügen.
Ankunft in Basel: Für Zürcher heisst der Bahnhof «Basel SBB», für die Basler – zumindest für die Älteren – «Centralbahnhof». Er steht am Centralbahnplatz, der an die Schweizerische Centralbahn (SCB) erinnert, welche 1854 mit der Strecke von Basel bis Liestal und ab 1858 mit deren Fortsetzung bis Olten durch den (alten) Hauensteintunnel, dem damals längsten Tunnel der Schweiz, die Stadt mit der übrigen Schweiz verband. Allerdings war Basel schon früher ans europäische Eisenbahnnetz angeschlossen, denn bereits 1844 erreichte die Strecke von Strassburg den Basler Bahnhof St. Johann und damit Schweizer Territorium, nota bene drei Jahre vor dem Bau der Spanischbrötlibahn von Zürich nach Baden, was zu bemerken sich der Halbbasler nicht verkneifen kann.
Doch zurück zum Centralbahnplatz: Wer als Neuling den Bahnhof durch eines der beiden imposanten Portale verlässt, ist zuerst einmal verwirrt von den vielen Tramgleisen, welche sich in einem komplexen Muster kreuzen und auf denen aus nicht voraussagbarer Richtung grüne und gelbe Tramwagen daherkommen und den unbedachten Platzüberquerer mit wütendem Gebimmel vor sich hertreiben.
Ich suche mir meinen Weg durch das Schienenparadies hinüber zum Strassburger Denkmal, das am Rande der Elisabethenanlage steht und an die humanitäre Hilfe der Schweiz während der Belagerung Strassburgs (1870) im Deutsch-Französischen Krieg erinnert, und betrete den Pausenhof des ehemaligen Realgymnasiums, das mich 1962 mit einer Maturitätsurkunde ins Leben entlassen hatte. Heute heisst das RG Kirschgartengymnasium und steht selbstverständlich auch für Mädchen offen. Koedukation war in den 1950er-Jahren noch ein Fremdwort, auch in der Primarschule.
Am «Atlantis» vorbei zur Wettsteinbrücke
Mit Dankbarkeit, ja leiser Verehrung, denke ich für einen Moment an meine Lieblingslehrer, an Hans Gutmann (Mathematiker, aber vor allem Philosoph) und Walter Widmer (Französischlehrer, bei dem wir kein Französisch, dafür aber die deutschsprachigen Schriftsteller live kennen lernten). Dann gehe ich, wie manchmal während der Schulzeit, über die Hermann Kinkelin-Strasse zum Klosterberg, werfe einen kurzen Blick auf das Café Atlantis, wo vormittags, wenn wir gelegentlich bei Lehrer Bethke eine Chemiestunde ausfallen liessen, Apostolos Moschoutis als Barpianist waltete, ganz für sich allein und ohne Noten. – Dass Apostolos viele Jahre später in der Küsnachter Ballettschule meine Frau als Pianist im Unterricht unterstützte, sei als weitere verborgene Verbindung zwischen Basel und Küsnacht vermerkt!
Für heute lasse ich das «Tiss» links liegen, folge der Elisabethenstrasse, passiere den Bankverein – Basel lässt sich diesen Namen nicht nehmen, auch wenn der Bankverein heute UBS heisst und seit kürzestem die einzig verbleibende Schweizer Grossbank ist –, gehe am Kunstmuseum vorbei, am Hauptbau aus dem Jahre 1936, dann am Neubau von Christ & Gantenbein (2016), und schon stehe ich am Anfang der Wettsteinbrücke, wo man einem der vier Basilisken, welche einst die 1879 eingeweihte erste Wettsteinbrücke zierten, in einer Nische am Strassenrand quasi als Entschuldigung für den Verkauf seiner drei Brüder Asyl gewährt hat. Hinter dem geflügelten Drachen ragen die Roche-Türme in den Himmel. Ihnen verdankt Basel offenbar die Bezeichnung «Hochausstadt».
Von Kapitän zu Kapitän
Aber mir bleibt keine Zeit, mich im Anblick der neuen Skyline zu verlieren, denn eben schiebt sich langsam ein Tankschiff durch die zweite Öffnung der Mittleren Brücke. Als ehemaliger Kapitän kann ich nicht anders, als das Manöver des über 130 Meter langen Schiffs mitzudenken: Kurs halten, solange das Heck die Brücke noch nicht passiert hat, auch wenn sich der Bug dem Landesteg der Fähre am steilen Ufer unter der Pfalz gefährlich zu nähern scheint, dann das Steuerruder nach links legen und vom Aussenrand des Rheinknies, wo die Strömung gegen das Ufer drückt, schräg auf das Grossbasler Joch der Wettsteinbrücke zufahren.
«Gut gemacht», rufe ich dem Kapitän im Stillen zu. Ich gehe weiter zum Kleinbasler Ufer und spüre am sich verändernden Licht, dass die Sonne sich hinter die Wolken zurückgezogen hat. Bevor sie untergeht, zeigt sie sich noch einmal als milchige Scheibe vor der Silhouette der beiden Münstertürme, dann ist sie weg, und die Temperatur sinkt spürbar. Dem Rheinweg entlang gehe ich flussabwärts.
Bettina Eichins träumende Helvetia
Mein letzter Besuch auf meinem ganz persönlichen Basler Nostalgiespaziergang gilt einer Frau. Sie sitzt am rechten Brückenkopf der Mittleren Brücke. Ihren Umhang hat sie abgelegt, Schild und Speer lehnen hinter ihr an der Balustrade, daneben steht ein kleiner Koffer. Die von Bettina Eichin geschaffene Helvetia schaut sehnsüchtig flussabwärts, dem fliessenden Wasser nach; sie denkt ans Meer, an ferne Länder, die sie, der Enge ihres helvetischen Goldkäfigs entfliehend, kennen lernen möchte. – Wie kann ich es ihr nachfühlen, dieses Ziehen in der Brust, das man Fernweh nennt. Nichts weckt es stärker, weder ein Wanderweg, noch eine Landstrasse oder ein Schienenstrang, als das fliessende Wasser eines mächtigen Stromes.
Ich gebe mir einen Ruck, gehe zur Haltestelle Rheingasse, wo eben der 34er-Bus ankommt, und lasse mich durch die Stadt hinaus zum Bottmingerschloss fahren, wo früher die Familie meiner Frau zahlreiche Feste gefeiert hatte. Heute Abend lädt die Alumnivereinigung der Universität Basel ihre – aktiven und ehemaligen – Vorstandsmitglieder zum Nachtessen ein und erstmals auch die Empfängerinnen und Empfänger des Alumni-Preises, den ich – als stolzer dritter Empfänger – am Dies Academicus 2017 habe entgegennehmen dürfen.
Als ich später mit dem gelben 10er-Tram zum Bahnhof Basel zurückfahre, in den deutschen ICE aus Hamburg einsteige, der mich nach Zürich bringen wird, erinnere ich mich an den Zürcher Seebueb, der hier einst als Zehnjähriger die erste Bekanntschaft mit seinem künftigen Wohnort gemacht hatte. Zu jener Zeit war Basel keine Hochhausstadt. Die Züge aus Deutschland wurden noch mit Dampf über die Rheinbrücke zum Centralbahnhof gezogen. Nur der Rhein war der Gleiche, floss wie heute unter Basels Brücken hindurch, schmiegte sich ans Ufer des Münsterhügels, verschwand dann im Dunst zwischen Vogesen und Schwarzwald und nahm meine Träume mit zum Meer.
Alle Bilder © Dieter Imboden