Ghaddafi war der erste arabische Machthaber, der nach dem Sturz von Ben Ali in Tunesien und von Mubarak in Ägypten zu Kriegsmassnahmen gegen seine aufbegehrende Bevölkerung griff. Nach ihm haben weitere Machthaber sich entschlossen, mit allen Mitteln den Wünschen ihrer Bevölkerung entgegenzutreten: Präsident Ali Abdullah Saleh im Jemen, König Hamad Ben Isa in Bahrein, Präsident Baschar al-Asad in Syrien.
Selbstbestätigung für die Revolutionäre
Wie weit sie dazu durch den Präzedenzfall Libyen ermutigt wurden, ist ungewiss. Dennoch kann man sich fragen, wie sich nun der bevorstehende Sturz des libyschen Diktators auf die Ereingisse in ihren Ländern auswirken wird.
Auf der Seite der Demonstranten wirkt er bestimmt ermutigend. Sie können auf einen weiteren Machthaber hinweisen, der durch Mut und Zähigkeit seiner Bevölkerung entmachtet werden konnte.
In jenen Ländern, denen die Absetzung ihres Tyrannen gelungen ist und die nun versuchen, den Übergang zu einem demokratischen Regime zu meistern, Tunesien und Ägyten, hat das bevorstehende Ende des Ghaddafi Regimes Jubel ausgelöst. Man wird einen Verbündeten mehr bekommen und man kann hoffen, bald wieder Arbeitskräfte in das benachbarte Erdölland entsenden zu können.
"Ein Sonderfall" für die belagerten Machthaber
Doch im Falle der Widerstand leistenden Potentaten ist die Wirkung des libyschen Beispiels wohl weniger stark. Sie stehen alle in einem Überlebenskampf. Sogar das königliche Regime von Bahrain, das eine erste Runde des Ringens zu seinen Gunsten entschieden hat, muss sich Sorgen um seine politische Zukunft machen. Die anderen beiden sind auf ihre Soldaten angewiesen und deren tödliche Waffeneinsätze, um prekär zu überdauern.
Sie werden sich sagen: "In Libyen hätte Ghaddafi gewiss seinen Überlebenskampf gewonnen, wäre die Nato nicht eingeschritten." Dies kann sie sogar ermutigen: "Bei mir," so können sie folgern, "gibt es kein von der Nato verhängtes Flugverbot, also gute Aussichten für meine Militärs."
Im Falle Bahrains fand ja sogar umgekehrt der Einmarsch saudischer Truppen auf Seiten des bahrainischen Herrscherhauses statt - was dort das vorläufige Ende der Protestbewegung erzwang.
Machtfestungen verschiedener Art
Ohnehin ist anzunehmen, dass die heute um ihre Machtposition mit allen Mitteln ringenden Gewaltherrscher in erster Linie auf ihre eigene Position im eigenen Lande konzentriert sind. Was im entfernten Libyen geschah, erscheint ihnen wahrscheinlich so verschieden von den Komponenten ihrer eigenen Lage, dass sie kaum gewillt sein werden, daraus Lehren für den eigenen Machtkampf zu ziehen.
In der Tat treten die Unterschiede der verschiedenen Auseinandersetzungen umso deutlicher hervor, je genauer man ihren Ablauf und die sozialen und politischen Umstände, die sich auf einen jeden Einzelfall auswirken, kennt.
Jeder im Schneckenhaus seines Machtgefüges
Um nur die allergröbsten Unterschiede zu nennen:
In Jemen gibt es kampfesfreudige, bewaffnete Stämme mit ihrer Führerschaft als einen zweiten Machtkomplex neben dem der Armee und der Sicherheitskräfte.
In Bahrain besteht die tiefe Spaltung zwischen der schiitischen Mehrheit und der regierenden sunnitischen Minderheit fort. Die Niederschlagung der Demonstranten hat sie nicht hat aufheben können.
Syrien besitzt eine eigene Machtkonstellation durch die Staat und Sicherheitskräfte dominierende alawitische Minderheit, die der Asad Familie als Festung und Unterbau dient.
Das Augenmerk eines jeden der bedrohten Machthaber düfte primär der seinem Lande spezifischen Machtkonstellation gelten, die ihm erlaubt, sich - vorläufig noch - an der Macht zu halten.
Elastische Machterhaltung für Königreiche
Noch einmal anders werden die Ereingisse von Libyen auf jene Herrscher einwirken, denen es bisher gelungen ist, die Protestbewegungen durch elastisches Nachgeben zum Abklingen zu bringen, ohne die repressive Gewalt eskalieren zu lassen. Dies sind primär die beiden Könige, Abdullah II von Jordanien und Muhammed VI von Marokko. Auch Sultan Qabus von Oman gehört zu dieser Gruppe.
Ihnen wird der Sturz Ghaddafis nahe legen, in ihrer Politik fortzufahren, solange dies irgend möglich sein wird: Konzessionen ja, jedoch nicht so viele, dass sie ihre eigene Macht dabei aufgeben müssten, und Vermeiden einer blutigen Eskalation im Ringen mit den Demonstranten.
Dies gilt wohl auch für Algerien, und in geringerem Masse für sämtliche arabische Regime, die heute alle ein vermehrtes Aufbegehren ihrer Bevölkerungen und Untertanen zu spüren bekommen, Saudi Arabien und die anderen Erdöl Staaten nicht ausgenommen.
Jeder sieht sich bestätigt
Man stellt im Überblick die erstaunliche Tatsache fest, dass der heute beinahe vollendete Sturz Ghaddafis vermutlich sämtliche arabische Regime und ihre Gegenspieler zu dem ermuntern und darin bestätigen wird, was sie heute schon tun: Jene die kämpfen, in ihren Kämpfen; jene, die demonstrieren, in ihren Demonstrationen; jene, die an der Errichtung eines neuen demokratischen Ansprüchen gerecht werdenden Regimes arbeiten, in diesem Bemühen; und jene, welche die Revolution bisher zu beschwichtigen vermochten, in ihrer politischen Linie.
Das heisst auch: Eine jede der antagonistischen politischen Kräfte ist so sehr engagiert und eingebunden in ihre Aktion, dass sie Alle die libysche Entwicklung im Lichte ihrer Sorgen und Hoffnungen sehen und sie als Bestätigung ihres eigenen Tuns und Lassens auffassen dürften.