Nach einigem Werweissen, wo und wie wir im Rahmen eines Aufenthaltes in unserer Lieblingsstadt einen Freitagabend ‘en ville’ verbringen wollten, hatten sich meine Frau und ich für das vergnügliche Musical ‘Mistinguett’, in der ‘Comedia’ am ‘Boulevard de Strassbourg’ entschlossen, gefolgt von einem Souper in einer der Brasserien um die ‘Bastille’ herum. Die Aufführung rund um die französischen Gesangsdiva der ersten Hälte des 20. Jahrhunderts hielt was sie versprach, und mehr.
Menschentrauben kommen uns gestikulierend entgegen
Indes, am Ende der stehenden Ovationen, als der Vorhang gegen halb elf endgültig niederging, kam die Diva persönlich zurück auf die Vorbühne, um uns - noch im Kostüm aber mit Alltagsstimme - über ‘Schiessereien im Quartier’ zu informieren, verbunden mit ihren Wünschen für sichere Heimkehr. Dank Handy beginnen die Meisten schon im Theaterfoyer zu begreifen, dass sich das wirkliche Drama für einmal auf der Strasse abspielt; zudem wartet dort der Theaterdirektor, welcher mit lauter Stimme zum möglichst raschen Weggehen vom Eingang auffordert.
Nun, was tun wenn einmal draussen ausser Sirenengeheul - wann hört man denn solches nicht in Grossstädten - nichts ausserordentliches stattzufinden scheint. Also auf Richtung der nahen ‘Bastille’, zur vom Gastroführer ‘la bonne fourchette’ empfohlenen Adresse, wo der reservierte Tisch wartet. Indes kommen uns bei der Porte St. Denis ganze Menschtrauben entgegen, gestikulierend, rufend und plötzlich in Laufschritt verfallend. Mit ihnen weichen wir in eine Seitenstrasse aus, nun doch etwas besorgt und ratlos. Wir hören, dass eine Geiselnahme im ‘Bataclan’ im Gange sei; dieses ist zwar nahe, aber auf der anderen Seite der Bastille gelegen und nach einigen ruhigeren Minuten gehen wir auf der Seitenstrasse des Boulevard St. Martin weiter in unserer ursprünglichen Richtung. Schliesslich haben wir sowohl Hunger als auch eine Reservation.
‘Viens, viens – sie schiessen aus Autos heraus auf alle’
Da ertönen vom Boulevard laute Geräusche, ‘Schüsse’ sagt meine Frau, ich meine noch beruhigend ‘nein’ weil es sich anders anhört als ich mich von Gefechtsübungen als Gebirgsfüsel zu erinneren glaube, aber es gibt kein Halten mehr. Ein junges Mädchen prescht an mir vorbei, packt mich am Arm und ruft mir mit angsterfüllter Stimme zu ‘viens, viens – sie schiessen aus Autos heraus auf alle’. Wir rennen in die Gegenrichtung, unbesehen davon, dass mir die Warnung auf den ersten Anhieb absurd erscheint. Wie sich später dann ja gezeigt hat, war sie dies keineswegs.
Mit einem grossen Umweg und zu Fuss gelangen wir schliesslich nach einer guten Stunde nach Hause in der Nähe der Pont de l’Europe. Busse scheinen nicht mehr zu verkehren, einige Metrogitter sind heruntergelassen, andere indes offen, Taxis sind alle besetzt. Die an einem Freitagabend sonst so geschäftige und belebte Stadtmitte der rive droite entleert sich rasch, Blaulichter und Sirenen dominieren den Strassenverkehr.
“Jetzt erst recht”
Am Bildschirm wird dann das Ausmass dieser heimtückischen Attacke auf den innersten Kern von Frankreichs Gesellschaft und Selbstverständnis klar. Mit einem gehörigen Schrecken, aber im Gegensatz zu den Opfern und ihren Angehörigen ohne jeden Schaden davongekommen, wird für mich Paris seit diesem Abend nicht mehr dasselbe sein. Unsicherer zwar, aber deswegen nicht weniger attraktiv. Im Gegenteil, zum normalen Vergnügen, immer wieder in die schönste Stadt der Welt zurückkehren zu können, mischt sich nun noch eine Prise ‘jetzt erst recht.’ Ein müdes Cliché gewiss, aber etwas vom Wichtigsten, was man dem Terror als Einzelner entgegensetzen kann.